Wer wurde am 25. Dezember von einer Jungfrau geboren, vollbrachte Wunder, starb später am Kreuz, war drei Tage tot und überraschte mit einer hollywoodreifen Auferstehung?
Jesus? Ja, auch er. Aber auch der ägyptische Sonnengott Horus wurde am 25. Dezember von einer Jungfrau geboren – aber 3000 Jahre früher. Und auch der persische Sonnengott Mithras wurde am 25. Dezember von einer Jungfrau geboren, hatte zwölf Begleiter, war drei Tage tot und verblüffte mit seiner Auferstehung – aber 1200 Jahre früher.
Die Liste der Götter, die Tausende Jahre vor Jesus dieselben biografischen Eckdaten aufweisen, ist gross. Die zwölf Begleiter weisen auf die astrologische Komponente hin und der Heiligenschein (Corona) auf die Sonne als Ursprung der Göttersagen.
In den meisten Religionen der Naturvölker ist die Sonne die Schöpferin der Welt, sie bringt die Natur zum Blühen, sie kann wärmen, aber auch verbrennen. In jedem Strauch, in jedem Fluss, in jedem Lebewesen manifestiert sich der göttliche Geist.
Herrscher erkannten schon früh, was Napoleon Jahrhunderte später niederschrieb: «Religion hält die Armen davon ab, die Reichen umzubringen.»
Die Sonne wurde personifiziert, sie erhielt (meistens) einen Penis, denn die Verfasser der heiligen Schriften waren Männer, die zugunsten von Männern schrieben. Später machte man den Sonnengott oft zu einer Person der Zeitgeschichte und instrumentalisierte ihn.
Religion ist die beste Klammer, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten oder zu unterdrücken, denn alle Menschen sehnen sich nach Gemeinschaft, nach gemeinsamen Ritualen und Symbolen. Auch Hooligans, militante Veganer, politische Extremisten und jene, die in die eigene Magersucht verliebt sind, haben ihre «Familie», ihre Diät-«Bibel», ihren Fitness-«Tempel». Der gemeinsame Nenner ist stets die gemeinsam praktizierte Intoleranz gegenüber Aussenstehenden.
Doch «die einzig wahre Religion», behauptet der Dalai Lama, «ist ein gutes Herz zu haben». Dafür braucht man keine Kirche, aber die Kirche braucht (zahlende) Gläubige.
Claude Cueni (62) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Soeben ist sein neuer Roman «Warten auf Hergé» erschienen. Cueni schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.