Ein Sportgeschäft im französischen Chamonix, nahe der Schweizer Grenze. Eine junge Frau mit Kopftuch zieht klobige Bergstiefel an, bindet die Schnürsenkel und wackelt ein bisschen mit den Füssen. Dann schüttelt sie den Kopf. Zu gross. Das nächste Paar sitzt. Die Frau nickt zufrieden. Gutes Schuhwerk ist für das, was sie vorhat, wichtig – genau so wie ein starker Wille.
Beides hat Hanifa Yousoufi (24) als erste Afghanin auf einen Siebentausender gebracht. Im August vergangenen Jahres bestieg sie den Noshak, den höchsten Berg ihres Landes. Ein Meilenstein – nicht nur für die 24-Jährige, sondern für alle afghanischen Frauen, für die Sport nicht selbstverständlich ist. Genau das will Hanifa ändern.
Darum ist sie gemeinsam mit ihrer Cousine Shogufa (19) und Freundin Mariam (20) nach Chamonix gekommen. Unterstützt von der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Ascend wollen die drei Afghaninnen lernen, wie sie sich auf Gletschern und im Schnee richtig bewegen, wie sie sich selbst und andere sichern – um künftig professionell Trekking-Touren in Afghanistan zu begleiten.
Shogufas Mama fragt nach dem Gebet
Das Trio, noch eher Mädchen als Frauen, albert mit den Helmen über ihren Hidschabs herum. Im Sportgeschäft ziehen sie die Blicke auf sich. Dass sie in Europa sind und wofür, weiss ausser ihren Familien niemand. Zu gross wäre das Sicherheitsrisiko. «Viele glauben, dass eine Frau, die Berge besteigt oder überhaupt irgendeiner Arbeit nachgeht, lieber zu Hause bleiben soll», sagt Hanifa. «Frauen wie wir werden gekidnappt oder sogar getötet.»
Am Abend, im Ferienhaus von Ascend-Gründerin Marina LeGree (40), schlafen Hanifa und Mariam sofort ein. Nur Shogufa telefoniert noch mit ihrer Mama. «Sie wollte wissen, ob ich gebetet habe.» Und, hat sie? «Natürlich nicht», sagt Shogufa und grinst schelmisch. «Es war alles viel zu aufregend.»
Auch Shogufa hat versucht, den Noshak zu erklimmen – und musste im Gegensatz zu ihrer Cousine Hanifa aufgeben. Das wurmt sie noch immer. Beim Frühstück am nächsten Morgen haut sie darum mächtig rein: Tee, Eier, Brot, Marmelade, Joghurt. «Auf dem Noshak ist mir die Energie ausgegangen. Ich will nicht, dass mir das wieder passiert.»
Hanifa wurde zwangsverheiratet und missbraucht
Ginge es nach ihrer Mutter, wäre Shogufa längst verheiratet. Das gesetzliche Alter für eine Ehe liegt in Afghanistan bei 16 Jahren – das reale oft noch darunter. «Neulich kamen wieder drei Familien und haben mir Fotos von ihren Söhnen gezeigt», erzählt Shogufa. Ihre Mutter habe unbedingt gewollt, dass sie einen davon als Ehemann akzeptiere: «Aber ich bin viel mehr wert als der.»
Hanifa bleibt bei diesem Thema still, in sich gekehrt. Sie wurde mit 14 zwangsverheiratet. Eine schreckliche Erfahrung. Am schlimmsten war es, wenn ihr Mann ins Schlafzimmer kam. Sie floh vor ihrem gewalttätigen Partner, doch die Scheidung haftet in der afghanischen Gesellschaft wie ein Brandmal an ihr.
Seit 2016 ist Hanifa bei Ascend, mittlerweile bringt sie selbst jungen Mädchen die Grundlagen des Kletterns und Bergsteigens bei. Mit den 150 US-Dollar, die sie monatlich dadurch verdient, ernährt sie Eltern und Geschwister. Sie ist die Jüngste von insgesamt acht Kindern – und wie 80 Prozent der Frauen ihres Landes Analphabetin.
In Chamonix trainieren die Mädchen am Gletscher
Bevor es nach dem Frühstück auf den Berg geht, schaut Marina LeGree den Mädchen noch mal tief in die Augen. «Geniesst den Tag! Ihr seid hier, weil wir wissen, dass ihr das Potenzial habt, den Weg für andere freizumachen.» Die Mädchen sind aufgeregt, sie freuen sich, ihren Lehrer für die nächsten Tage zu treffen: Rob Spencer (59), ein erfahrener Tourguide aus Grossbritannien. Er will ihnen helfen, sich sicher in Gletschergebieten zu bewegen. Eine viel grössere Herausforderung als normale Wanderwege.
Mit der Gondel geht es auf den Brévent und einen ersten, kleinen Anstieg hinauf. Spencer beobachtet die Mädchen dabei genau. «Das sind Bergsteigerinnen, das sieht man», sagt er anerkennend. «Die Mädchen sind fit, sie wirken glücklich und quatschen.» Auf rund 2400 Metern erklärt er den Plan für den Tag.
Hanifa, mit feuerrotem Kopftuch und verspiegelter Sonnenbrille, muss sich beim Zuhören besonders konzentrieren. Sie spricht nur wenig Englisch. Leichter fällt ihr der praktische Teil. Mit geübtem Griff legt Hanifa Steigeisen und Klettergurt an, dann hilft sie den beiden Jüngeren. Auf dem gegenüberliegenden Gipfel glänzen Schnee und Eis im Sonnenschein: der Mont Blanc, 4810 Meter. Gar nicht so hoch, findet Hanifa.
Das EDA rät von Reisen und Aufenthalten jeder Art in Afghanistan ab. Aus gutem Grund: Die Islamische Republik ist eines der gefährlichsten Länder der Welt.
Auf dem Papier ist Afghanistan eine Demokratie. Bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober 2018 liessen sich mehr als 2500 Kandidaten aufstellen, darunter 418 Frauen. Doch der Krieg im Land hebelt die demokratischen Strukturen aus. In vielen Landesteilen sind die Taliban an der Macht, in anderen Teilen des Landes kämpfen bewaffnete Gruppierungen und der Islamische Staat gegen die Sicherheitskräfte.
Schwere Gefechte, Raketeneinschläge, Minen, Terroranschläge, Entführungen, Vergewaltigungen und bewaffnete Raubüberfälle sind Alltag. Allein im Jahr 2017 sind nach Angaben der Vereinten Nationen 3438 Zivilisten getötet und 7015 verletzt worden. (kin)
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