Hannah (32) braucht einen neuen BH. Ihr alter riss in Serbien. Die Syrerin steht nun im slowenischen Durchgangslager an der Grenze zu Österreich. Mit dem Finger zeigt sie auf die Tafel mit Piktogrammen. Hosen, Schuhe, Jacken, Taschen und Unterwäsche sind abgebildet. Eine Helferin in gelber Weste bringt ihr eine Schachtel mit zerknüllten BH.
Hannah wühlt darin. Neben ihr auf dem Tisch strahlt Musa, wie neun Monate alte Buben strahlen, wenn jemand sie anlacht. «Seid ihr endlich fertig?», keift ein slowenischer Soldat. Hannah versteht nichts. Sie hat Angst, spürt den kalten Atem des vermummten Mannes. Vor zwei Wochen erst floh sie vor Bomben des syrischen Regimes.
Hannah wühlt nun hastiger, lässt Musa kurz aus den Augen. Der lacht – und fällt vom Tisch. Er schreit. Die Frau in der gelben Weste erstarrt. «Er muss sofort ins Feldspital», ruft Alex Wagnières (48), Mitarbeiter des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH). «Swiss Humanitarian Aid» steht auf seiner Weste.
Die Schweiz ist angekommen auf der Balkanroute. Fünf SKH-Experten sind seit Mitte November im winzigen slowenischen Grenzort Sentilj tätig, auf Anfrage der slowenischen Regierung. Acht Tonnen Hilfsgüter haben sie mitgebracht. Sie gestalten das Lager «menschenwürdiger», erklärt Teamleiterin Cornelia Genoni (40). «Und die Schweiz setzt hier ein Zeichen der Solidarität mit den Balkanstaaten.»
Eine Million Franken hat das SKH für Einsätze in Slowenien und Kroatien budgetiert. Mit 60'000 Franken unterstützt es Slovenska filantropija. Die Hilfsorganisation betreut ankommende Flüchtlinge, verteilt Wasser, Essen und Kleider.
Die Schweizer selbst stellen sicher, was Menschen in Not so sehr bewahren wollen wie wir alle: Würde. Mit Wasser, um sich zu waschen, die Zähne zu putzen. Und mit etwas Privatsphäre. Der ausgebildete Architekt Wagnières verlegt Leitungen in den Boden, damit diese in frostigen Nächten nicht bersten. Sein Team stellt Duschen und Toiletten auf, getrennt für Frauen und Männer.
Es sei eine «grosse Erleichterung, die Schweizer hier zu haben», sagt Rudolf Golob vom slowenischen Zivilschutz. «Wir lernen von ihrer Erfahrung.»
So bringt Wagnières bei allen Waschbecken neue Hahnen an. Diese tropfen nicht und stellen nach Gebrauch sofort ab. Wo Toitoi-Toiletten stehen, lässt er den Platz asphaltieren. Eine schlammige Treppe verbindet das obere und untere Camp von Sentilj. Ist sie nass, rutschen Flüchtlinge und Helfer aus.
Um das Risiko zu verringern, spannte Wagnières erst ein Seil. Nun baut er eine Metalltreppe.
Gemäss neuesten Uno-Zahlen reisen täglich 6300 Flüchtlinge durch Slowenien – was die meisten Slowenen kaum bemerken. Die Ströme sind längst kanalisiert. Die Flüchtlinge werden auf ihrem langen Treck nach Deutschland regelrecht durch den Balkan geschleust.
Sechs Busse kommen heute von der kroatischen Grenze her an. Sie fahren direkt ins Durchgangszentrum. Und die Züge halten nicht am Bahnhof, sondern beim Camp, damit keine Flüchtlinge durchs Dorf marschieren. Maskierte Polizisten und Soldaten bilden einen Korridor und eskortieren die übermüdeten Menschen. Zivilschützer nehmen sie in Empfang, teilen sie vier geheizten Messezelten zu.
Auf Pritschen liegen Wolldecken, einige mit Schweizerkreuzen versehen. Männer und Frauen rollen sich ein, wollen einfach nur schlafen. Zwei Knaben umwickeln Füsse mit Plastik, damit sie beim nächsten Marsch trocken bleiben. Fast alle suchen Steckdosen für Handys und vergebens drahtloses Internet: Das WLAN in Sentilj funktioniert nicht.
Kinder rennen Ballons hinterher, sind froh, endlich ein paar Stunden an einem Ort bleiben zu können. Sie essen Braeburn-Äpfel von bester Qualität. Die Früchte wären für den Export nach Russland bestimmt. Das verhindern aber die EU-Sanktionen.
Der gross gewachsene syrische Koch Abdulazis (29) besorgt Kleider für seine Töchter. Vor drei Wochen floh er aus Damaskus. Jetzt braucht er Jacken und Pullover für Lin (5) und Lojen (3). Sie lachen, tippen mit Händen auf das Schild mit den Piktogrammen. Sie möchten neue Mützen. «Und ich will nach Deutschland oder Schweden», so der Vater. Nicht in die Schweiz? «Es heisst, die Schweizer seien unfreundlich zu Flüchtlingen.»
Es ist kalt, unter null Grad. Unter Heizpilzen wärmen sich bewaffnete Soldaten. Sie sorgen für Ruhe unter den 2000 Menschen, die hier übernachten könnten. Heute sind es nur ein paar Hundert. Da der Winter angebrochen ist, sinken die Zahlen. Und weil Mazedonien nur noch Afghanen, Iraker und Syrer durchlässt. Ohnehin wollen die meisten nicht in Sentilj schlafen. Sie wollen möglichst rasch weiter. Wer morgens ankommt, ruht sich aus und bricht nach dem Mittagessen auf. Andere bleiben eine Nacht, frühstücken, gehen. Den Rhythmus bestimmen österreichische Grenzer. Per Telefon teilen sie den Slowenen mit, wie viele sie aufnehmen.
Es ist 13 Uhr, 500 Flüchtlinge stehen in einer Reihe auf der Strasse. «Los», ruft einer auf Arabisch. Polizisten beäugen den Treck, der sich langsam vorwärtsbewegt. Und vor der Grenze wieder hält. Wie Vieh sind Flüchtlinge hinter Schranken eingepfercht. Warten eine Stunde in der Kälte auf Einlass nach Österreich. Babys schluchzen. Die querschnittgelähmte Syrerin Nabila (33) friert im Rollstuhl. Sie findet ihren Cousin nicht, der ihr durch den Balkan half.
Um seine Familie zu wärmen, entfacht Englischlehrer Bakari (32) ein Feuer. Mit 13 Verwandten ist er aus Aleppo in Syrien geflohen. Brennholz findet er kaum, da frierende Flüchtlinge die Äste und Rinde aller Bäume abgerissen und verbrannt haben. Deshalb legt Bakari Wolldecken aufs Feuer. «An solchen Orten sieht man, welche Bedingungen Menschen aushalten können», sagt Cornelia Genoni vom SKH.
Es sei härter geworden auf der Flucht, erzählen in Sentilj viele. Etwa Mahmoud (35) aus Rakka, der Hochburg der Terrorbande IS. «Serbische Polizisten haben uns geschlagen und mit Tasern angegriffen.» Stundenlang sei er im Regen gestanden. «Sie lachten uns aus», sagt der Steinmetz. Im Gesicht und am Hals hat er Narben. «Der IS folterte mich.»
Es ist 14 Uhr, das Lager ist fast leer. Bis ein Zug hält. Vielleicht 500 Frauen, Kinder und Männer steigen aus. Acht Syrer und zwei Syrerinnen aus allen Regionen des vom Bürgerkrieg geschundenen Landes reisen zusammen. Auf der griechischen Insel Kalymnos lernten sie sich kennen.
Ahmed (40) leitet die Truppe. Die heimliche Chefin aber ist Leila (23), eine Buchhalterin aus Latakia. Sie spricht perfekt Englisch. «Ich lernte es ihm Kino», sagt sie. In Karlsruhe lebe ihr Verlobter. Er floh vor einem Jahr. «Sprich nicht mit der Presse», sagt Ahmed. «Das ist Europa, hier sagt ihr den Frauen nicht mehr, was sie tun dürfen.» Sie hängt ihr Telefon an eine Steckdose. «In zwei Tagen bin ich in Karlsruhe, dann ist es geschafft.»