Auf einen Blick
- Der Neue bei den Muotathaler Wetterschmöckern
- Um das Wetter vorherzusagen, beobachtet Silvan Betschart Tiere und Pilze
- Die Wetterfrösche treffen sich zweimal im Jahr, um ihre Prognosen zu stellen
Silvan Betschart (34) schaut aus dem Fenster. Graue Wolken ziehen vorüber, es schneit ein wenig, die Strasse ist von einer dünnen Eisschicht überzogen. «Dasch ä eländs Hudelwätter», sagt der Innerschweizer. Heute will er aus dem Haus – die Natur ruft, auch wenn sie sich nicht von ihrer schönsten Seite zeigt. Doch zuerst gönnt er sich «ä Schale», seinen Kaffee. Man soll ja nichts überstürzen.
Der hektische Alltag verblasst hier oben wie ein flüchtiger Traum. Betschart lebt auf dem Berg Hochstuckli, 1200 Meter über Meereshöhe im Kanton Schwyz. Die Handy-Abdeckung endet kurz vor seinem Haus, die Wetter-Apps hängen in der Ladeschleife. «Es gibt Schlimmeres», sagt Betschart ruhig. Er verlässt sich ohnehin lieber auf seine Instinkte als auf meteorologische Prognosen. Und: «Bin ich nicht erreichbar, dann bin ich zu Hause.» Seine Freunde wissen das.
Unweit von hier liegt das Muotatal, die Hochburg der Wetterpropheten. Betschart stammt nicht von dort, aber seit Neustem ist er einer von ihnen – ein Muotathaler Wetterschmöcker. Im Sommer haben ihn die Instinkt-Meteorologen zum Nachfolger von «Wettermissionar» Martin Horat (†79) ernannt. Horat war schweizweit bekannt, weil er sich mit dem Hintern auf Ameisenhaufen setzte und sich von den Insekten «aseiche» liess, um die Zukunft des Wetters zu deuten.
Die Wetterjagd beginnt
Betschart überlässt die Ameisen lieber sich selbst. Er hat sich auf grössere Kaliber spezialisiert – Wildtiere wie Fuchs, Gämse, Hirsch, Reh. Und die will er jetzt aufspüren, denn seine Kaffeetasse ist leer. Betschart setzt den Jägerhut auf, greift zum Feldstecher und nimmt Jagdhündin Calina an die Leine. Die Wetterjagd des Propheten beginnt.
Es geht in den Süden, in Richtung Grosser und Kleiner Mythen. Dort soll es einen Hang geben, den die Gämsen lieben, weil sie dort nicht gejagt werden. Betschart fährt mit dem Auto über eine schmale, kurvenreiche Bergstrasse, vorbei an eingefallenen Scheunen und von der Sonne schwarz gebrannten Sennhütten. Plötzlich bremst er, das Auto stoppt. Ein Tier rennt übers schneebedeckte Feld, ein Fuchs. Was sagt der übers Wetter aus? «Der sagt nicht viel, der hat Hunger», erwidert der Wetterprophet trocken und fährt weiter.
Im Tal hängt der Nebel, streift langsam durch die Tannenwälder und gleitet den Berg hinauf. Seit Jahrhunderten versuchen Menschen in dieser Gegend, das Wetter zu prophezeien – meist Landwirte, die wissen wollten, wie lang sie das gemähte Gras liegen lassen dürfen, bis der nächste Regen kommt. Nicht immer waren sich die Bauern einig. Besonders leidenschaftlich stritten die Propheten im Muotatal, wo sie seit 1749 nachweisbar sind. Aus ihrer Freude am Debattieren übers Wetter entstand 1947 der Meteorologische Verein Innerschwyz, gegründet am Stammtisch des Restaurants Adler in Ried SZ.
Von da an trafen sich die Wetterfrösche regelmässig in Beizen wie dem Berggasthaus Herrenboden oberhalb von Sattel – dem Restaurant von Betscharts Familie. In dritter Generation führt es heute Silvan Betschart mit seiner Frau. Als Kind setzte er sich jeweils zu den Wetterweisen und lauschte, wie sie über Pflanzen, Tiere und das künftige Wetter beratschlagten. «Sie konnten stundenlang darüber debattieren, es war faszinierend», erzählt Betschart. Dann tritt er wieder auf die Bremse, bis das Auto zum Stehen kommt.
Spurensuche im Tiefschnee
Der nächste Strassenabschnitt ist stark zugeschneit. «Wir müssen die Natur nicht herausfordern», sagt Betschart und steigt aus. Ab hier geht es zu Fuss weiter. Calina eilt voraus, schnuppert am Boden entlang – es scheint, als habe sie eine Fährte aufgenommen. Betschart folgt ihr mit ruhigen Schritten. Nur das Knirschen des Tiefschnees ist zu hören. Auf einmal Spuren, die Pfotenabdrücke eines Marders. Was hat das zu bedeuten? «Den Marder sieht man kaum, ein mystisches Tier», sagt Betschart. Aha: Der Wetterschmöcker lässt sich offenbar nicht gern in die Karten blicken.
Betschart hütet das Geheimnis der Wetterzeichen wie ein Appenzeller sein Käse-Rezept. Denn die sechs Muotathaler Wetterfrösche stehen im Wettstreit. Zweimal im Jahr treffen sie sich, um ihre Prognosen fürs nächste Halbjahr abzugeben. Eine Jury prüft jeweils, wessen Vorhersage am zutreffendsten war, und krönt den Sieger zum Wetterkönig. «Wir sind eine gesellige Runde, haben es immer lustig», sagt Betschart. «Aber wenns ums Wetter geht, zeigt sich der Ehrgeiz.» Auch seinen Mitstreitern gibt er lieber keinen Tipp, also schweigt er über die Bedeutung der Zeichen.
Wenigstens verrät Betschart, worauf er achtet: Wann die Paarungszeit beginnt, wann der Haarwechsel einsetzt, wo sich die Tiere aufhalten, zu welcher Jahreszeit – «jenste Sachen halt». Als Jäger schaut er auch, ob die Innereien der Tiere «zwäg» sind. «Am Fett kann man viel über den Winter ablesen.» Im Frühling und im Herbst beobachtet er Pilze: Wo sie wachsen, wie zahlreich, ob sie Würmer haben. Die Pilze landen schliesslich in seiner Küche, wo er den Geschmack prüft, ein weiteres Zeichen. Als gelernter Metzger und Koch verwertet er in seinem Restaurant alles, auch Wild, das er selbst erlegt.
Die Natur versteckt sich
Plötzlich zischt er: «Keine Fragen mehr.» Jetzt gilt es, still zu sein. Behutsam schreitet der Wetterschmöcker unter schneeweissen Tannen hindurch, balanciert über glitschige Wurzeln und eiskalte Steine, bis er eine Klippe erreicht. Er setzt den Feldstecher an, sucht und sucht, doch der Nebel wird dichter, feine Schneeflocken rieseln, die Natur hüllt sich ein, spielt Verstecken.
Hündin Calina winselt vernehmlich. «Die hät es chalts Füdle», sagt Betschart. Zeit, in die warme Stube zurückzukehren. Unter diesen Wetterbedingungen bleiben die Wildtiere verborgen. Betschart zuckt mit den Schultern: «Mängisch versecklet eim d’Natur.» So sei es eben – nicht alles lasse sich durchschauen. Aber das spiele keine Rolle. «Draussen sein, das ist immer schön.»
Auf der Rückfahrt sagt er auf einmal ohne Vorwarnung: «Es git ä guete Winter.» Viel Schnee, so bis 1000, 1500 Meter hinab. Skifahrer dürfen sich freuen. Nur: Wer weiss, vielleicht hat die Natur den neuen Wetterfrosch wieder Mal «versecklet».