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Bertrand Piccard über unser Versagen im Umweltschutz
Sind wir alle Psychopathen?

Wenn unser Planet überleben soll, müssen wir uns vor jenen Unbelehrbaren schützen, die ihn nicht retten wollen. Und um das zu tun, müssen wir erst einmal begreifen, wer diese Menschen sind.
Publiziert: 24.10.2020 um 12:41 Uhr
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Aktualisiert: 25.10.2020 um 18:08 Uhr
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Der Schweizer Bertrand Piccard (62) umkreiste die Erde mit einem Ballon und in einem Solarflugzeug. Der Psychiater setzt sich schon seit langem für die Erhaltung der Umwelt ein.
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Bertrand Piccard

Die Abholzung hat sich in der Corona-Pandemie weltweit mehr als verdoppelt. Während also die Hälfte der Menschheit gegen ein Virus ankämpfte, dessen Ursprung stark mit der Zerstörung der Biodiversität in Zusammenhang zu stehen scheint, nutzten andere die Situation aus, um in Indonesien, dem Kongo und dem Amazonas die Zerstörung des Waldes zu beschleunigen, wie der WWF kürzlich veröffentlichte. Das gibt Anlass, uns ein paar Fragen über die Absurdität unserer Zeit zu stellen.

Was geht in den Köpfen derjenigen vor, die heute unseren Planeten zerstören und damit ihre eigene Zivilisation gefährden? Wie können wir weiterhin massiv in fossile und umweltschädliche Energien investieren, trotz aller Warnungen der Wissenschaft? Wie können wir weiterhin den Boden zerstören, Kunststoffe und Chemikalien in Flüsse und Ozeane leiten, die Ressourcen des Planeten ausbeuten und Lobbys finanzieren, die nichts anderes tun, als dafür zu kämpfen, dass all dies weiterhin erlaubt bleibt? Ganz zu schweigen vom Menschenhandel und von Kindersklaven, die die für unsere Smartphones benötigten Mineralien gewinnen?

Wieso tun wir nichts?

Natürlich, Gewinn ist verlockend, aber wie konnte ein solcher Egoismus entstehen, der uns nicht davor zurückschrecken lässt, andere und sich selbst für Geld oder Macht in Gefahr zu bringen? Diese Fragen faszinieren den Psychiater. Sie beunruhigen den Investor. Sie beschäftigen den von der Globalisierung faszinierten Schriftsteller.

Ist es Ignoranz?

Selbst wenn noch einige die Gefahr, die unserer Umwelt droht, und das Leid, das die Schwächsten ertragen müssen, verkennen – es ist schwer vorstellbar, dass ein Mensch komplett ignorieren kann, wie viel Übel wir in die Welt bringen. Wissenschaftler warnen seit den 1980er-Jahren, die Medien haben es weiterverbreitet, und die sozialen Netzwerke dienen als Resonanzboden. Unwissenheit ist heute also eher Dummheit. Oder Sturheit, was auf dasselbe hinausläuft.

Es ist leichter, ein System zu akzeptieren, das man nicht ändern kann – als sich schuldig zu fühlen. Darum verschliessen wir die Augen vor der ökologischen Realität und vor der Frage, woher unsere Konsumgüter kommen und wie sie hergestellt werden.

Die Ausreden der Wirtschaft

Und was ist mit den Menschen, die sie herstellen lassen? Es ist einfach, sich einzureden, dass immer ein anderer kommt und die Lücke füllt, sobald wir aufhören, ein schädliches Produkt zu produzieren. Und es stimmt wohl sogar. Es wird immer jemanden geben, der an unserer Stelle giftige Substanzen oder Antipersonenminen herstellt. Auch bei Plastikflaschen wird der Hersteller immer sagen können, dass es seine Kunden sind, die sie ins Meer werfen, und nicht er.

Eine der grössten Schwierigkeiten des Menschen besteht darin, sein unmittelbares Verhalten mit Auswirkungen in der Zukunft hier oder in anderen Teilen der Welt zu verbinden. Ein persönlicher Fehler scheint immer unbedeutend, auch wenn die Vervielfachung dieses Fehlers im globalen Massstab katastrophale Folgen hat. Also nehmen wir weiterhin unser Auto mit Verbrennungsmotor, werfen unsere Kaffeekapseln in den Müll und lassen das Licht in einem leeren Raum an. Wie Tolstoi ausführte: «Jeder denkt daran, die Welt zu verändern, und niemand denkt daran, sich selbst zu verändern.»

Es gibt noch einen anderen beliebten Ausweg: die Verantwortung für unser Handeln komplett an die Autoritäten abzutreten, ohne das System in Frage zu stellen.

An einer Konferenz, die in Paris während der Finanzkrise von 2008 stattfand, sagte ein Teilnehmer, er fühle sich nicht für die Finanzkrise verantwortlich, weil er nur auf Anweisungen reagiert habe. Paul Volcker, ehemaliger Vorsitzender der US-Notenbank, antwortete: «Diese Art, sich selbst zu entlasten, indem man sagt, dass man nur seine Arbeit getan hat, ist inakzeptabel wie das, was 1945 von Nazi-Funktionären über ihre Haltung gegenüber dem Holocaust gesagt wurde.» Ein brutaler, schwer verdaubarer Vergleich. Volckers Worte hallen noch immer nach. Er fügte hinzu: «Sie können nicht so tun, als wüssten Sie nicht, was Sie tun.» Es war wichtig, die Bevölkerung daran zu erinnern: Wir haben unsere Taten selbst zu verantworten. Wir sind nicht Diener eines Systems. Das dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Werte vor Wert.

Sowohl unsere Taten wie auch das System, das uns zu ihnen motiviert, sind wichtig. Wir glauben, uns selbst entlasten zu können, weil wir höchstens eine indirekte Verantwortung zu haben glauben. Indem wir uns als Gesellschaft kollektiv für das kapitalistische Modell des Shareholder Value entschieden hatten, trafen wir die implizite Entscheidung, alles dem Profit unterzuordnen. Anstatt aber ein Modell zu entwickeln, das die problematischsten Auswüchse unterbindet oder eindämmt, haben wir uns entschieden, uns anzupassen. Und nun wachen wir auf und stellen fest: Es hat nicht funktioniert. Der kapitalistische Vordenker Adam Smith, das vergessen wir oft, ist nicht nur der Autor von «Der Wohlstand der Nationen» (gilt als Standardwerk des Wirtschaftsliberalismus; Anm. d. Red.), er ist auch der Autor der «Theorie der ethischen Gefühle», die als sein bestes Werk gilt und in der er das «Wohlgefallen, welches durch gegenseitige Sympathie erzeugt wird» untersucht. Das ist weit entfernt vom reinen Egoismus, den wir mit Smith’s Theorien verbinden. Doch diese Seite von Smith ignorieren wir. Es dominiert ein Modell, das Laster ebenso wenig bestraft, wie es Tugend fördert. Als Kompass in einem Unternehmen dient einzig der Profit. Wer sich entscheidet, gegen diese Logik anzukämpfen, der muss erst den Beweis erbringen, eine realistische Alternative zu haben. Die Beweislast wird umgekehrt. Das ist ein ungleicher Kampf.

Kein Verursacherprinzip

Wie weit sind wir bereit zu gehen, um unsere Ideale zu verteidigen? Sind wir bereit, ohne Schadstoffe zu leben? Unsere Arbeitsplätze zu verlieren? Unser Leben zu riskieren?

Die Frage stellt sich umso mehr, als aufgrund unseres Wirtschaftsmodells und der Missachtung des Verursacherprinzips die geltende Gesetzgebung Schadstoffemissionen und die Einfuhr gefährlicher Produkte viel zu einfach zulässt. Viele Unternehmen und Einzelpersonen nutzen die Laxheit der Behörden aus, um nichts an ihrem Verhalten zu ändern. Und zwar mit reinem Gewissen.

Eine Zivilisation entsteht nicht über Nacht, und Probleme tauchen erst mit der Zeit auf.
Zu welchem Zeitpunkt muss man reagieren? Heute basieren viele Unternehmen und Arbeitsplätze auf Aktivitäten, die den Planeten zerstören und Menschen ausbeuten.
Sie können gar nicht anders. Es gibt keinen Zauberstab, mit dem ein Manager sein Unternehmen transformieren könnte. Denken Sie an die Chefs von Unternehmen, die Plastikstrohhalme, umweltschädliche Fahrzeuge oder fossile Brennstoffe produzieren; denken Sie an die Betreiber von Minen oder Deponien. Sie müssen Investitionen tätigen, Löhne zahlen und Familien ernähren. Denken wir auch an Menschen, die illegal exotisches Holz geschlagen haben, um es auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Viele von ihnen tun es nicht aus Vergnügen, sondern aus Notwendigkeit oder Gewohnheit. All diese Menschen sollten die Möglichkeit zur Umschulung, Berufsausbildung, Diversifizierung, Modernisierung ihrer Anlagen, Industrieprozesse und Fahrzeugflotten haben. Wir müssen ihnen Alternativen bieten, biologisch abbaubare Kunststoffe, erneuerbare Energiequellen, Rentabilität für ihre Abfälle, neue wirtschaftliche Absatzmöglichkeiten, die es ihnen ermöglichen, ihre Tätigkeit lukrativ fortzusetzen. Genau dies ist das Ziel der Stiftung Solar Impulse und ihrer Labels: Lösungen fördern, die die Umwelt auf rentable Weise schützen können.

Was ist mit den Unbelehrbaren?

Es gibt noch eine letzte Kategorie von Menschen: jene, die sich des Ernstes der Situation und der Folgen ihres Handelns voll bewusst sind, die anders handeln könnten und wissen, dass es möglich ist, die aber lieber in ihrer Sackgasse verharren. Ihre einzige Motivation ist kurzfristiger Gewinn, ohne Rücksicht auf das Leid und die Ungleichheiten, die dadurch entstehen. Sie sind unempfindlich gegenüber dem Leiden anderer, sind egozentrisch und haben einen Mangel an Schuldgefühlen. Was sagt das psychiatrische diagnostische und statistische Handbuch, das Psychiatern weltweit als Referenz dient, über diese Symptome aus? Die Diagnose im sogenannten DSM-5 ist klar: Es handelt sich um Psychopathen, im medizinischen Sinne des Wortes.

Wir sprechen hier nicht von den blutrünstigen, sadistischen und gewalttätigen Menschen, die wir aus Filmen kennen und die man eigentlich als Soziopathen bezeichnen müsste, sondern von einer psychischen Störung, die den Psychiatern gut bekannt ist: der Psychopathie. Diese Pathologie, die durch die oben aufgeführten Symptome genau definiert ist, scheint Personen zu betreffen, die versuchen, selbst Leiden zu vermeiden, indem sie sich jeglicher Empathie entledigen. Sie sind in ihrer Kindheit oft misshandelt, manipuliert und missbraucht worden und haben einen psychologischen Weg gefunden, sich emotional vor ihrem Leiden zu schützen. Drei Prozent der erwachsenen Bevölkerung sollen von diesem Leiden betroffen sein! Darüber hinaus schätzt ein 2016 in der Zeitschrift «Crime Psychology Review» veröffentlichter Artikel, dass in Kaderpositionen der Anteil der Psychopathen viel höher ist. Er könnte bei fast 20 Prozent liegen. Es liegt auf der Hand, dass es leichter ist, die Erfolgsleiter zu erklimmen, wenn man keine Skrupel hat, wenn man nach unten tritt und nicht an schlaflosen Nächten leidet, wenn man ein paar Hundert Mitarbeiter entlassen muss, um die Aktien eines Unternehmens an die Börse zu bringen.

Wir müssen uns schützen

Wenn es möglich ist, diejenigen zu informieren, die nicht wissen, diejenigen zu überzeugen, die zweifeln, denen zu helfen, die es brauchen, oder Untergebenen bessere Befehle zu erteilen, dann gibt es gegen den Psychopathen nur ein Rezept: Wir müssen uns um jeden Preis vor ihm schützen. Es steht nichts anderes auf dem Spiel als das Überleben unserer Zivilisation.

Unserer Ansicht nach ist es die Rolle und Pflicht jeder menschlichen Gesellschaft, sich gegen diese Art von Psychopathen zu schützen, so wie sie sich auch vor Mördern und Betrügern schützen muss. Auf die persönliche Verantwortung von Führungskräften in Wirtschaft und Politik, die Entscheidungen gegen das Allgemeininteresse treffen, sollte systematisch hingewiesen werden. Die Entscheidung eines Individuums, Tonnen von giftigen, krebserregenden Stoffen in einen Fluss zu kippen, ist ebenso verwerflich wie die Tat eines Serienmörders. Im Gefängnis landet allerdings nur einer. Solange das so ist, wird das Problem weiter bestehen.

Es ist an der Zeit, sich mit solchen Fragen zu befassen. Die Antwort kann strafrechtlich sein. Sie kann moralisch sein. Sie kann auch Teil der notwendigen Überarbeitung unseres Wirtschaftssystems sein. Indem wir den Profit nicht mehr als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Teilhabe am Gemeinwohl unseres Planeten und seiner Bewohner wählen, würden wir dazu beitragen, die Taten der Psychopathen sichtbarer, geächteter und kostspieliger zu machen. Die Krise, die wir gerade durchmachen, ist eine neue Chance, aber nur wenn wir über die Welt danach sprechen und darüber, wie wir die Regeln verändern wollen.

Wenn die politischen Führer jetzt nicht in der Lage sind, die notwendigen Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen, dann unterschreiben sie damit ihre eigene Diagnose.

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