BLICK: Herr Ramm, haben Sie dieses Ergebnis erwartet?
Christoph Ramm: Nach einem Abstimmungskampf, der mit sehr unfairen Bandagen geführt wurde, kommt das Ja nicht überraschend. Er ist zwar ein Erfolg für Erdogan, aber kein berauschender. Er schaffte es nur mit undemokratischem Doping knapp über die Ziellinie.
Was sagt das knappe Resultat aus?
Dass die Türkei in zwei Hälften gespalten ist und dass viele Mitglieder von den nationalistischen Grauen Wölfen und selbst manche von Erdogans AKP Nein stimmten.
Was bedeutet das Ja für die Türkei?
Es ist eine Zustimmung für ein System, das mehr oder weniger schon geherrscht hat. Es hat nun allerdings einen verfassungsrechtlichen Rahmen erhalten und wird gestärkt.
Macht Erdogan aus der Türkei eine Diktatur?
Auf jeden Fall einen Präsidialstaat mit eingeschränkter Gewaltenteilung. Der Präsident kann zwar vom Parlament abgewählt werden, doch die demokratischen Kontrollmöglichkeiten sind begrenzter.
Wird Erdogan nun mit voller Härte auf seine Gegner los gehen?
Er hat ein Interesse an einer stabilen Türkei. Daher ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass er auf seine Gegner, etwa die Kurden, zugeht oder Gefangene freilässt. Er muss sein Land zur Ruhe bringen – vielleicht macht er das auf pragmatische Weise.
Und wenn nicht?
Wenn er den Druck gegen seine Gegner verstärkt, ist es möglich, dass mehr und mehr Türken aus ihrer Heimat fliehen. Kurden, Intellektuelle, Christen und einfach Leute, die liberal gesinnt sind oder keine Perspektiven mehr sehen.
Was heisst das Ja für Europa?
Wenn Erdogan tatsächlich die Todesstrafe einführen will, ist der Zug für einen EU-Beitritt definitiv abgefahren.
Wie soll sich der Westen nun gegenüber der Türkei verhalten?
Die Türkei ist und bleibt ein wichtiger Handelspartner. Es wäre fatal, wenn der Westen die Türkei abschreiben und die Beziehungen kappen würde. Man darf die Anhänger der pluralistischen Demokratie in der Türkei nicht fallenlassen. Viele Türken setzen grosse Hoffnung in den Westen. Es ist vor allem die Regierung, die sich vom Westen abwendet, nicht die ganze Bevölkerung.
Was passiert mit dem Flüchtlingsabkommen? Wird Erdogan die Schleusen öffnen?
Er hat oft damit gedroht, es aber nie gemacht. Die Frage ist, ob er die Beziehungen mit Europa wirklich schädigen will. Er bekommt ja auch viel Geld dafür.
Wird die Türkei Nato-Partnerin bleiben?
Davon gehe ich aus. Die Nato ist auf die Türkei angewiesen. Sie konnte sich bisher auch immer gut mit autoritären Regimen arrangieren.
Wie wichtig waren die Auslandstimmen?
Sie waren sehr wichtig, aber wohl nicht matchentscheidend.
Das jährliche Handelsvolumen zwischen der Schweiz und der Türkei beträgt 3,2 Milliarden Franken. Wird es nun schrumpfen?
Für wirtschaftliche Unternehmen steht nicht das politische System im Vordergrund, sondern die Stabilität. Wenn es Erdogan gelingt, sein Land zu stabilisieren, wird die Abstimmung beim Handel keinen Einfluss haben. Zudem hat er auch ein Interesse an Investitionen: Der Tourismus ist am Boden, der Wirtschaft geht es nicht rosig.