Mehr als 13'000 Soldaten marschieren am Mittwochmorgen auf dem Roten Platz zu Live-Musik eines Militärorchesters auf. Von der Tribüne nimmt der Vladimir Putin im Beisein von Kriegsveteranen und internationalen Gästen die bombastische Waffenschau ab. Panzer, Luftabwehrsysteme und natürlich atomar bestückbare Interkontinentalraketen rollen an den Kremlmauern vorbei – der Stolz der russischen Streitkräfte und eine Abschreckung für den Feind. Passend zum Jubiläum sollen 75 Flugzeuge der Luftstreitkräfte am Himmel glänzen.
Das Gedenken an die 27 Millionen Opfer der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ist in Russland heilig, wie Putin fast täglich betont. «Wir sind unbesiegbar, wenn wir vereint sind», sagte er schon am Tag des Sieges am 9. Mai, an dem er wegen der Corona-Pandemie noch auf grosse Feierlichkeiten verzichtet hatte. Sieben Wochen später sieht die Lage an der Corona-Front kaum besser aus. Trotzdem dreht sich in Russland seit Tagen alles um Ruhm und Ehre.
WHO warnte vor Infektionsrisiko
Mit einem von Putin angestossenen Gesetz soll nun auch Kindern die Ehrung der Helden frühzeitig beigebracht werden. Schon seit langem versucht der Präsident mit seiner nationalpatriotischen Politik, das Land auf Grundlage der Erinnerung an den grossen Sieg zu einen. Die Geschichte samt Heldengedenken sei der «Klebstoff» der Gesellschaft, schreibt die Moskauer Denkfabrik Carnegie-Center in einer Analyse. Kritiker werfen Putin dagegen eine rückwärtsgewandte Politik vor.
In Moskau riss die Debatte über den Sinn der Parade in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie nie ab. Die Weltgesundheitsorganisation warnte vor dem Infektionsrisiko bei Massenveranstaltungen. Viele russische Städte sagten die Paraden wegen der Gefahr ab. Putin aber meinte zuletzt, die Siegesfeier sei ein besonderes Zeichen der Wertschätzung für die Opfer des Krieges und für ihre Angehörigen. Der neue Termin, um Siegesfeiern nachzuholen, lag Putin besonders am Herzen: Am 24. Juni 1945 gab es unter dem Sowjetdiktator Josef Stalin die erste Parade nach Kriegsende. Ein historisches Ereignis.
Kostenpunkt: 12 Millionen Euro
Doch nicht nur wegen des Coronavirus ist der Aufmarsch umstritten. In der Kritik stehen die immensen Kosten für die Parade von geschätzt 925 Millionen Rubel oder umgerechnet rund 12 Millionen Euro. Kremlkritiker halten solche Ausgaben für die Demonstration militärischer Stärke in Zeiten schwerster wirtschaftlicher Probleme für unverantwortlich. Der von den Panzern zerstörte Asphalt, der Treibstoff, die Sicherheitsvorkehrungen, die Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel für die Soldaten – das alles komme den Staat teuer zu sehen, meinte der Anti-Korruptions-Kämpfer Alexej Nawalny.
«Und dann rechnen Sie noch die Ausgaben für die Behandlung all jener Menschen dazu, die sich durch diese unsinnige Parade während des Höhepunkts der Epidemie anstecken», meinte der Kremlgegner. Er hatte immer wieder kritisiert, Putin gehe es nur um die schönen Bilder und nicht um die Gesundheit der Menschen. Die Stadt Moskau empfahl den Bürgern, sich das Spektakel lieber im Fernsehen anzuschauen.
Weitere Massenveranstaltung im Juli
Für Putin ist das Grossereignis im Beisein internationaler Gäste nach Wochen der Isolation in seiner Vorstadtresidenz aber auch eine Rückkehr auf die Bühne der Weltpolitik. Nach der Parade geht es weiter mit umstrittenen Massenveranstaltungen. Am 1. Juli ist die Abstimmung über die historische Verfassungsänderung angesetzt, die Putin dauerhaft die Macht sichern soll. Am 26. Juli ist das nächste grosse Kriegsgedenken geplant: der Marsch des «Unsterblichen Regiments». Dabei tragen die Menschen zu Hunderttausenden Porträts ihrer Angehörigen aus den Kriegstagen durch die Strassen.
Je näher diese für Putin wichtigen Termine rückten, desto geringer fielen die offiziell genannten Corona-Infektionszahlen aus. Immer wieder machte der Präsident zuletzt ausserdem deutlich, dass Russland schon bald seinen ersten Impfstoff zulasse werde. Als Start der Massenproduktion ist der September im Gespräch. Eine Massenimpfung soll bereits im Herbst erfolgen. (SDA/bra)