Es ist 9 Uhr morgens, als elf Männer in den Gerichtssaal von Kecskemét nahe der Grenze zu Serbien geführt werden. Bis auf 70 aus vielen Ländern angereiste Journalisten ist der Raum fast leer. Dabei geht es um ein besonders abscheuliches Verbrechen: Die Angeklagten sollen im August 2015 nahe Wien den qualvollen Erstickungstod von 71 Flüchtlingen in einem Camion billigend in Kauf genommen haben.
Wie können Menschen mit einer solchen Schuld leben?
Den bulgarischen Fahrern, welche die Schreie der Sterbenden im Frachtraum anhören mussten, denen ist die Last ins Gesicht geschrieben. Entspannt dagegen, fast arrogant lächelnd, erscheint der Hauptangeklagte Samsoor L.* Auf dem Weg zur Anklagebank hält der Afghane ein Heft in der Hand, auf dessen Rückseite auf Arabisch die Worte «Alles ist Islam» gekritzelt sind.
Der Hauptangeklagte wird seine Bosse schützen
L. ist es dann auch, der die Verlesung der Anklageschrift für Stunden verhindern wird. Immer wieder zweifelt er die Paschtu-Kenntnisse der vom Gericht bestellten Dolmetscherin an. Er weigert sich, Details zu seinem Lebenslauf zu nennen. Rund 300'000 Euro hatte der Schlepper allein in der heissen Phase des Flüchtlingssommers 2015 verdient.
Das bedeutet Loyalität: L., das zeigt schon der erste Tag des Verfahrens, wird seine bisher nur unter den Decknamen Amin, Kairo und Doktor bekannten serbischen Bosse schützen. Er wird im Prozess von Kecskemét die Rolle des Unruhestifters übernehmen.
Dabei sind die von den ungarischen und österreichischen Ermittlern gegen die Angeklagten gesammelten Beweise erdrückend. «Falls sie sterben sollten, soll er (der Fahrer) sie in Deutschland im Wald abladen», befahl Samsoor L. per Telefon.
Der Wortlaut des von zynischem Gelächter begleiteten Gesprächs findet sich in den vom Rechercheverbund des Norddeutschen und Westdeutschen Rundfunks und der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlichten Überwachungsprotokollen der ungarischen Polizei.
Schon zwei Wochen im Visier
Die hatte – auch dies wird Gegenstand des Prozesses sein – die Schlepperbande zum Zeitpunkt des Verbrechens nämlich bereits seit zwei Wochen im Visier. Über die im Camion versteckten Mikrofone hätten die Fahnder den Mord an den 71 Flüchtlingen live mithören können. Leider, so heisst es jetzt bedauernd, hatten wir für eine solche Operation nicht genügend Personal. Nicht genug, um den Massenmord verhindern zu können.
Intensiv wird dieses Versagen des ungarischen Staats, das Kanzlerin Angela Merkel wenige Tage später zur Öffnung der deutschen Grenzen brachte, von den Richtern Kecskemét allerdings kaum thematisiert werden. Menschen auf der Flucht vor Krieg, Folter oder auch nur wirtschaftlicher Not haben in Viktor Orbáns Staat nur noch wenige Fürsprecher.
* Name der Redaktion bekannt