Er hat mit ihr am DDR-Chemieprogramm getüftelt, mit ihr den Doktortitel gefeiert und mit ihr bei der Bundestagswahl mitgefiebert: Der in der Schweiz wohnhafte Schriftsteller und Theaterintendant Michael Schindhelm (56) ist ein guter Freund der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (63).
Der ostdeutsche Chemiker Schindhelm lernte Physikerin Merkel 1983 kennen. Die Arbeit an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin verschlug die beiden drei Jahre lang ins gleiche Büro, Abteilung Theoretische Chemie. Schindhelm zu BLICK: «Wir haben am Computer Programme zur atomaren Chemie entwickelt.»
Merkel und die vielen Männer
Das Team setzte sich aus Merkel und einem Dutzend Männer zusammen. Schnell merkte Schindhelm, dass er mit der einzigen Mitarbeiterin offen reden konnte. «Uns verbindet der protestantische Hintergrund mit Luther und Bach.» Dieses Vertrauen war in der damaligen DDR, in der Angst und Misstrauen herrschten, überhaupt nicht selbstverständlich. «Angela war sehr neugierig und offen für Neues. Sie löcherte mich, der nach fünf Jahren Studium aus der UdSSR zurückgekehrt war, mit Fragen», erzählt der international bekannte Kulturvertreter.
Schindhelm lernte Merkel als teamfähige, akribisch genaue und sympathische Kollegin kennen und schätzen. Auch ihre Bescheidenheit kam damals schon zum Ausdruck: «Sie erzählte sehr wenig über sich, auch auf ihr Äusseres legte sie wenig Wert.» Als sie 1986 den Doktortitel erlangte, lud sie in der Akademie zu einer Feier. Nebst Schindhelm war auch Quantenchemiker Joachim Sauer (heute 68) eingeladen, der 1998 Merkels Ehemann wurde.
Nach drei Jahren hielt es Michael Schindhelm nicht mehr aus. Nicht wegen Merkel, sondern wegen der Arbeit. «Die Aufgabe an der Akademie war für mich eine Einbahnstrasse.» Mit dem Fall der Mauer richtete auch Merkel ihr Leben neu aus. Schindhelm: «Damals waren ihre Leadership-Qualitäten nicht absehbar. Aber sie hat sich neu erfunden.»
Ein Spruch fürs Leben
Zum Abschied schrieb Michael Schindhelm seiner Kollegin einen Spruch in ein Buch, der sie bis heute begleiten sollte: «Geh ins Offene!» Diese Widmung erwähnte Merkel später als Kanzlerin in ihrer Rede zum Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 2006: «Sie ist für mich wie die Überschrift über all meine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte aus dieser Zeit. Gehe ins Offene! Das war mit das Schönste, was man mir zu dieser Zeit sagen konnte. Und wie ich losmarschiert bin. Das waren unglaubliche Tage, Wochen und Monate. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Nicht fragen, was nicht geht, sondern fragen, was geht.» Autor Schindhelm verwendete dieses Zitat später auch in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch «Roberts Reise».
Über die faktische Wiederwahl Merkels ist Schindhelm erleichtert. «Sie sorgt international für Stabilität. Das ist gerade heute wichtiger denn je.» Innenpolitisch sorgt sich Schindhelm über die Verlagerung der Kräfte von der Mitte an die Extreme auf der rechten und linken Seite. «Leider lassen sich viele Menschen von schwungvollen Parolen mitreissen.»
Im Osten eine Verräterin
Dass Angela Merkel ausgerechnet in ihrer alten Heimat, im Osten, Federn lassen musste, überrascht Schindhelm nicht. «Viele Ü-60er aus dem Osten sehen sich als Verlierer der Wiedervereinigung. Sie hätten von Merkel mehr Ossi-tum erwartet. Für sie ist sie eine Verräterin.»
Noch heute stehen Merkel und Schindhelm regelmässig in Kontakt. Sie rufen sich an, wenn sie sich Neuigkeiten zu erzählen haben, etwa wenn Michael Schindhelm ein neues Buch geschrieben hat. Manchmal, wenn sie im Fernsehen erscheint, schliesse er seine Augen. Ihre Stimme, so sagt Schindhelm, klinge noch wie vor 30 Jahren. «Angela Merkel ist im Kern der Mensch geblieben, den ich damals kennengelernt habe.»