Die Neuenburgerin Julie Melichar (26) ist als Helferin auf der Aquarius. Dem Rettungsschiff, dem die Einfahrt in einen italienischen Hafen verwehrt wurde.
Die Telefonverbindung aufs Schiff riss gestern während des Gesprächs mehrmals ab. Die Aquarius befindet sich zusammen mit zwei anderen Schiffen, die einen Teil der Flüchtlinge übernommen haben, noch immer auf hoher See. Geplant ist die Ankunft der Schiffe im spanischen Valencia für Sonntag gegen 13 Uhr.
SonntagsBLICK: Frau Melichar, wie ist die Situation an Bord der Aquarius?
Julie Melichar: Wir segeln gerade nördlich an den Balearen vorbei. Alle sind erschöpft. Wir sind jetzt seit über einer Woche auf dem Meer. Wir haben die Küsten von Sardinien und Korsika gesehen. Die Geretteten fragten uns immer wieder: «Wie lange geht es noch, wann können wir uns ausruhen?»
Was antworten Sie?
Wir sagen: Wir gehen nach Valencia. Wir hoffen, dass wir bald dort und ihr an einem sicheren Ort seid.
Gibt es einen Momentin den letzten Tagen auf See, der Ihnen nicht mehr aus dem Kopf geht?
Ich sass gestern morgens um sechs Uhr auf dem Deck. Die Leute waren am Aufwachen, kamen langsam ebenfalls hinaus. Ein Mann setzte sich zu mir. Er erzählte mir seine Geschichte. Auch davon, wie er im Gefängnis in Libyen war, wie er in einer Zelle eingesperrt mit sieben Leichen ausharrte. Irgendwann schwieg er. Dann sagte er, dass er mir noch etwas anderes erzählen wolle – etwas, wofür er sich so schäme. Er sagte, sie hätten die Frauen aus den Zellen geholt, sie zuerst gewaschen, dann vergewaltigt und wieder zurück in die Zelle gebracht. Wir sassen lange zusammen auf dem Deck.
Was ging in Ihnen vor, als Sie mit diesem Mann dasassen?
Es ist unerträglich, wenn ich daran denke, dass fast alle Menschen, die bei uns an Bord sind, ähnliche Geschichten aus Libyen erzählen könnten. Dazu kommt, dass die Rettungen aus den Booten nachts auf die Aquarius schwierig war. Das Boot brach entzwei, über 40 Leute waren im Wasser, zwei sind seither vermisst. Diese Menschen sind so verletzlich. Aber da gibt es noch etwas anderes, was mir in Erinnerung bleibt.
Erzählen Sie.
Das Wetter während der Überfahrt nach Spanien war bis gestern oft sehr rau. Die Wellen oft bis zu drei Meter hoch, der Wind stark. Es war schwierig mitanzusehen, wie die Leute sich erbrechen, darunter stillende Mütter. Zu sehen, wie sie nachts bei hohem Wellengang in Tücher oder in diesen orangen Notfallsäcken eingewickelt drinnen auf dem Boden liegen und sich übergeben. Und zugleich zu wissen, dass diese Menschen alle schon so lange in Sicherheit an Land sein könnten.
Warum arbeiten Sie auf einem Rettungsschiff?
Wir als Europäer müssen dort auf dem Meer sein und diese Leute in Sicherheit bringen. Ich fühle mich verantwortlich. Darum mache ich das.
Was erwarten Sie von Europa?
Das soll ein Weckruf sein. Wir brauchen einen gemeinsamen Plan. Es geht um Solidarität. Im Zentrum muss stehen, dass wir das Leben der Menschen, die aus Libyen geflohen sind, bewahren können.
Sie tönen müde.
Ich bin müde. Aber ich finde, es ist nicht der Rede wert. Es ist nichts im Vergleich zu den Menschen, die wir hier an Bord haben. Sie sind so viel erschöpfter.
Mehr als eine Woche ist vergangen, seit die Aquarius 629 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettete. Noch immer sind die Menschen auf dem Schiff, darunter Kranke, Schwangere und Kinder – auf hoher See. Der Grund ist ein Entscheid des italienischen Innenministers Matteo Salvini. Er verwehrte dem Rettungsschiff Anfang der Woche, einen italienischen Hafen anzulaufen. Erst gegen Sonntagmittag wird die Aquarius deshalb vor Anker gehen: in Valencia. Spanien hat sich bereit erklärt, die Flüchtlinge aufzunehmen.
Das Gezänk darüber, wie mit ihnen umzugehen ist, wie Flüchtlinge gerecht auf die Mitgliedsländer verteilt werden, spaltet die EU. In Deutschland könnte der Asylstreit die Koalition zerreissen. Simonetta Sommaruga ist «tief besorgt» über die Entwicklung rund um die Aquarius. «Es darf nicht sein, dass Menschen in Not zum Spielball von Spannungen zwischen einzelnen Nationen werden», erklärt die Bundesrätin gegenüber SonntagsBlick. Sie stand deshalb in Kontakt mit Dimitris Avramopoulos, dem EU-Kommissar für Migration: «Ich habe ihm in Erinnerung gerufen, wie wichtig eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik im Rahmen von Dublin ist.»
Die Weigerung Italiens, Flüchtlinge vom Schiff einer Hilfsorganisation aufzunehmen, wird kein Einzelfall bleiben. Auf Facebook schrieb Innenminister Salvini gestern, dass er der Seefuchs und der Lifeline keine Erlaubnis geben werde, einen Hafen anzusteuern. «Diese Leute sollten wissen, dass Italien diesem illegalen Einwanderungsgeschäft nicht länger Beihilfe leisten will, also werden sie sich andere, nicht-italienische Häfen zum Ansteuern suchen müssen», schreibt er.
Der Rechtspopulist Salvini hält Rettungsorganisatoren für «Schlepperbanden», die sich vor der Küste Libyens positionierten, Menschen aus seeuntüchtigen Schiffen aufnähmen und sie nach Europa chauffierten.
Auch Fabio Zgraggen (32) wäre nach Salvinis Definition ein Schlepper. Der Appenzeller Pilot hat mit Freunden die Humanitarian Pilots Initiative gegründet. Seit drei Jahren ist er an Rettungen im Mittelmeer beteiligt. Sichten die Piloten Flüchtlingsboote, geben sie die Koordinaten an Rettungsschiffe durch. Ohne Umschweife sagt Zgraggen: «Die Situation im Mittelmeer ist zurzeit desaströs.»
Seit zwei Wochen habe er da draussen so viele Flüchtlinge gesehen wie schon lange nicht mehr. Zwar kreuze auch die italienische Küstenwache im Mittelmeer und leiste einen wichtigen Teil der Arbeit. «Zurzeit aber sind extrem wenige Rettungsschiffe unterwegs.» Die Situation werde dadurch verschärft, dass die Aquarius nun nach Spanien fahren müsse, weil ihr kein Zugang zu einem italienischen Hafen gewährt wurde. Denn das bedeute, dass auch dieses Schiff eineinhalb Wochen nicht vor Ort ist, niemanden retten kann.
Zraggen weiss, wohin das führt. Zu oft musste er es aus dem Cockpit seiner Maschine mitansehen: Menschen treiben auf untergehenden Booten in den Wellen. Zwar könnten er und sein Team dann die Koordinaten der Ertrinkenden durchgeben. Doch nicht immer seien Rettungsschiffe in der Nähe, und auch sonst niemand, der helfen kann.
Allein in diesem Jahr ertranken bereits 800 Flüchtlinge bei dem Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Zgraggen: «Mir fällt es schwer zu verstehen, warum Menschen sterben müssen, einzig weil der politische Wille fehlt. Denn die Mittel für die Rettung wären vorhanden.»
Doch warum sind er und sein Team überhaupt ehrenamtlich über dem Mittelmeer unterwegs? Vor drei Jahren wurde Zgraggens bester Freund Vater – und er Götti eines Jungen. Die beiden lasen von den vielen Ertrunkenen und fragten sich, was sie dem Kleinen einmal antworten würden, wenn er fragt, was sie getan hätten damals – als Tausende im Mittelmeer starben. «Das war der Auslöser», sagt Zgraggen. Denn mit dem Privileg, in einem Land wie der Schweiz geboren worden zu sein, sei auch eine Verantwortung verknüpft. Also machten sie sich auf den Weg.
Mehr als eine Woche ist vergangen, seit die Aquarius 629 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettete. Noch immer sind die Menschen auf dem Schiff, darunter Kranke, Schwangere und Kinder – auf hoher See. Der Grund ist ein Entscheid des italienischen Innenministers Matteo Salvini. Er verwehrte dem Rettungsschiff Anfang der Woche, einen italienischen Hafen anzulaufen. Erst gegen Sonntagmittag wird die Aquarius deshalb vor Anker gehen: in Valencia. Spanien hat sich bereit erklärt, die Flüchtlinge aufzunehmen.
Das Gezänk darüber, wie mit ihnen umzugehen ist, wie Flüchtlinge gerecht auf die Mitgliedsländer verteilt werden, spaltet die EU. In Deutschland könnte der Asylstreit die Koalition zerreissen. Simonetta Sommaruga ist «tief besorgt» über die Entwicklung rund um die Aquarius. «Es darf nicht sein, dass Menschen in Not zum Spielball von Spannungen zwischen einzelnen Nationen werden», erklärt die Bundesrätin gegenüber SonntagsBlick. Sie stand deshalb in Kontakt mit Dimitris Avramopoulos, dem EU-Kommissar für Migration: «Ich habe ihm in Erinnerung gerufen, wie wichtig eine Reform der gemeinsamen Asylpolitik im Rahmen von Dublin ist.»
Die Weigerung Italiens, Flüchtlinge vom Schiff einer Hilfsorganisation aufzunehmen, wird kein Einzelfall bleiben. Auf Facebook schrieb Innenminister Salvini gestern, dass er der Seefuchs und der Lifeline keine Erlaubnis geben werde, einen Hafen anzusteuern. «Diese Leute sollten wissen, dass Italien diesem illegalen Einwanderungsgeschäft nicht länger Beihilfe leisten will, also werden sie sich andere, nicht-italienische Häfen zum Ansteuern suchen müssen», schreibt er.
Der Rechtspopulist Salvini hält Rettungsorganisatoren für «Schlepperbanden», die sich vor der Küste Libyens positionierten, Menschen aus seeuntüchtigen Schiffen aufnähmen und sie nach Europa chauffierten.
Auch Fabio Zgraggen (32) wäre nach Salvinis Definition ein Schlepper. Der Appenzeller Pilot hat mit Freunden die Humanitarian Pilots Initiative gegründet. Seit drei Jahren ist er an Rettungen im Mittelmeer beteiligt. Sichten die Piloten Flüchtlingsboote, geben sie die Koordinaten an Rettungsschiffe durch. Ohne Umschweife sagt Zgraggen: «Die Situation im Mittelmeer ist zurzeit desaströs.»
Seit zwei Wochen habe er da draussen so viele Flüchtlinge gesehen wie schon lange nicht mehr. Zwar kreuze auch die italienische Küstenwache im Mittelmeer und leiste einen wichtigen Teil der Arbeit. «Zurzeit aber sind extrem wenige Rettungsschiffe unterwegs.» Die Situation werde dadurch verschärft, dass die Aquarius nun nach Spanien fahren müsse, weil ihr kein Zugang zu einem italienischen Hafen gewährt wurde. Denn das bedeute, dass auch dieses Schiff eineinhalb Wochen nicht vor Ort ist, niemanden retten kann.
Zraggen weiss, wohin das führt. Zu oft musste er es aus dem Cockpit seiner Maschine mitansehen: Menschen treiben auf untergehenden Booten in den Wellen. Zwar könnten er und sein Team dann die Koordinaten der Ertrinkenden durchgeben. Doch nicht immer seien Rettungsschiffe in der Nähe, und auch sonst niemand, der helfen kann.
Allein in diesem Jahr ertranken bereits 800 Flüchtlinge bei dem Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Zgraggen: «Mir fällt es schwer zu verstehen, warum Menschen sterben müssen, einzig weil der politische Wille fehlt. Denn die Mittel für die Rettung wären vorhanden.»
Doch warum sind er und sein Team überhaupt ehrenamtlich über dem Mittelmeer unterwegs? Vor drei Jahren wurde Zgraggens bester Freund Vater – und er Götti eines Jungen. Die beiden lasen von den vielen Ertrunkenen und fragten sich, was sie dem Kleinen einmal antworten würden, wenn er fragt, was sie getan hätten damals – als Tausende im Mittelmeer starben. «Das war der Auslöser», sagt Zgraggen. Denn mit dem Privileg, in einem Land wie der Schweiz geboren worden zu sein, sei auch eine Verantwortung verknüpft. Also machten sie sich auf den Weg.