Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte (53) schert aus. Entgegen der EU-Linie setzt der Liberale nicht aufs Abstand halten – sondern auf Massenansteckung.
«Ich habe keine einfache Nachricht für Sie», sagte er in einer Fernsehansprache am Montagabend. Das Coronavirus sei eh schon da. «Die Realität ist, dass in naher Zukunft ein grosser Teil der niederländischen Bevölkerung mit dem Virus infiziert sein wird.»
Seine absolute Priorität sei es, die älteren und besonders gefährdeten Niederländer zu schützen. Er wolle das aber nicht durch einen kompletten Stillstand erreichen. In Absprache mit seinem Berater Jaap van Dissel (62) von der niederländischen Gesundheitsbehörde RIVM habe er sich für einen anderen Weg entschieden.
Rutte vergleicht das Coronavirus mit Masern
«Unsere Experten sagen, dass wir bis zum Erhalt eines Impfstoffs oder eines Medikaments die Ausbreitung des Virus verlangsamen und gleichzeitig auf kontrollierte Weise eine Gruppenimmunität aufbauen können», sagt Rutte. «Diejenigen, die das Virus gehabt haben, sind danach in der Regel immun.»
Das sei wie bei Masern. «Je grösser die Gruppe ist, die immun ist, desto geringer ist die Chance, dass das Virus auf anfällige ältere Menschen und Menschen mit schlechtem Gesundheitszustand überspringt. Mit der Herdenimmunität baut man sozusagen einen Schutzwall um sie herum auf.»
Herdenimmunität ist keine Erfindung niederländischer Experten. Auch Briten-Premier Boris Johnson (55) hatte anfangs auf diese Methode gesetzt. Nach massiver Kritik von Wissenschaftlern knickte er ein.
Die Folgen von Ruttes Vorgehen sind unabsehbar. Zum einen ist noch unklar, ob und wie sich beim Coronavirus eine Herdenimmunität ausbilden kann. Wegen der Dynamik des Virus besteht zudem das Risiko, dass bei einer zu schnellen Ausbreitung das Gesundheitssystem kollabiert – und die Herdenimmunität am Ende Tausende Tote fordert.
Macron: «Wir befinden uns in einem Gesundheitskrieg»
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron (42), auf EU-Ebene Ruttes liberaler Verbündeter, setzt auf das genaue Gegenteil: Ausgangssperre. Vor die Tür sollen Menschen nur noch, wenn es unbedingt notwendig ist. Wer in Frankreich etwa ab Dienstagmittag das Haus verlassen will, kann dies nur noch mit einem Formular tun.
«Wir befinden uns in einem Gesundheitskrieg und der Feind ist hier», sagte Macron am Montagabend in einer Fernsehansprache. «Die Epidemie ist zu einer neuen Realität geworden, die eine grosse Bedrohung darstellt.»
Sein niederländischer Amtskollege Mark Rutte ist hingegen bereit zum risikoreichen Sonderweg. Er sei sich bewusst, dass das «Monate oder sogar noch länger» dauern könne, um die Herdenimmunität aufzubauen. Menschen, die zur Risikogruppe gehören, müssten in dieser Zeit besonders geschützt werden.
Das sind laut Rutte die drei Corona-Szenarien
1. Kontrollierte Ansteckung
Das öffentliche Leben wird nicht vollständig eingestellt, junge Menschen ohne Vorerkrankungen sollen sich ruhig infizieren – da die Krankheit bei ihnen in der Regel harmlos verlaufe.
«Das ist unsere erste Wahl», sagt Rutte. «Wir versuchen, den Höhepunkt der Infektionszahlen durch Massnahmen zu nivellieren und zu glätten und über einen längeren Zeitraum zu verteilen.» So werde das Gesundheitssystem nicht überlastet.
2. Unkontrollierte Ansteckung
«Das würde unser Gesundheitssystem überlasten», sagt Rutte. Das müsste auf jeden Fall vermieden werden.
3. Das Virus stoppen
«Das würde einen Lockdown bedeuten», erklärt Rutte. «Das klingt vielleicht erstmal attraktiv, aber Experten sagen, das dauere länger als ein paar Tage und Wochen.»
«Wir werden das ständig überprüfen»
Die Niederlande seien ein offenes Land. «Und solange es keinen Impfstoff gibt, wird sich das Coronavirus weiterhin wie eine Welle über die Welt ausbreiten und unser Land nicht überspringen.»
Er habe sich darum für den risikoreichen Sonderweg entschieden. «Wir werden das ständig überprüfen», verspricht Rutte. «Wir werden weiterhin nach dem Gleichgewicht zwischen dem Ergreifen der notwendigen Massnahmen und dem möglichst weitgehenden Fortbestehen des normalen Lebens suchen.» Wenn die Ausbreitung des Virus auf diese Weise unter Kontrolle gebracht werden könne, seien die Folgen für die öffentliche Gesundheit letztlich am besten beherrschbar.
Niederländische Medien kritisieren Ruttes Entscheidung
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich zu Ruttes Einzelgang noch nicht geäussert. Italiens Regierungschef Giuseppe Conte (55) hatte die europäischen Partner allerdings am Montag zu einem koordinierten Kampf gegen die Folgen der Corona-Krise aufgerufen.
Im eigenen Land regt sich bereits Kritik gegen Ruttes Kurs. Allein seit Montag sind in den Niederlanden 19 Menschen an den Folgen des Coronavirus gestorben.
In «De Telegraaf», der grössten Tageszeitung des Landes, kritisiert ein renommierter italienischer Professor Ruttes Vorgehen. «Die niederländische Regierung geht ein sehr grosses Risiko ein», sagt der Virologe Roberto Burioni von der Universität San Raffaele in Mailand, wo das Corona heftig wütet. «Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage, um von Gruppenimmunität zu sprechen. Wir wissen noch gar nicht, ob eine Immunität gegen dieses Virus auftreten kann. Das ist noch unbekannt.»