Ein geflügeltes Wort in der Türkei geht so: «Wer Istanbul hat, besitzt die Türkei.» Es bringt Erdogans Dilemma auf den Punkt. Die AKP, die Partei des türkischen Staatspräsidenten, hat die Bürgermeisterwahl am 31. März in Istanbul verloren.
Auch nach einer Neuauszählung der Stimmen lag der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu (CHP) mit 15'000 Stimmen vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim (AKP). Das passt dem türkischen Machthaber nicht. «Dass Istanbul an die Opposition fällt, ist für Erdogan schwer aushaltbar», sagt Türkei-Experte Ali Sonay von der Universität Basel. Erdogan selbst hatte seine politische Karriere als Bürgermeister in Istanbul gestartet.
Dazu kommt: Imamoglu entwickelt sich auch für Erdogan zur ernsthaften Konkurrenz. Der 48-Jährige ist selbst zwar liberal, stammt aber aus einer konservativen Familie. Der Vater war Imam. Damit punktet der Oppositionspolitiker auch bei AKP-Wählern.
Die Türkei driftet in die Diktatur ab
Um seinen Einfluss in der grössten Stadt der Türkei nicht zu verlieren, lässt Erdogan die Istanbul-Wahl wiederholen. Die Wahlkommission begründete den Entscheid am Montag mit «Unregelmässigkeiten». Es ist eine neue Dimension im Ringen um politische Macht in der Türkei – und sie zeigt, wie Erdogan auch den letzten Anschein von Demokratie beerdigt.
«Die Annullierung der Wahl in Istanbul ist eine weitere Bestätigung, dass sich die Türkei sehr weit von einer Demokratie entfernt hat», sagt Hans-Lukas Kieser, Geschichtsprofessor an der Universität Zürich, zu BLICK. «Lange hat das Wahlsystem noch funktioniert. Dass der Verlierer aber das Wahlergebnis nicht akzeptiert, ist ein Tabubruch.»
Entsprechend entsetzt fallen die Reaktionen im Ausland aus. Deutsche Koalitionspolitiker haben die Wahl-Annullierung kritisiert. Der menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Michael Brand (CDU), sagte dem «Spiegel»: «Wer so lange wählen lassen will, bis ihm das Ergebnis passt, der ist ein lupenreiner Anti-Demokrat.» Es sei «eine weitere Etappe in einem gezielten Abdriften in eine Diktatur». Berlin und Brüssel dürften nicht achselzuckend an der Seitenlinie stehenbleiben. «Europa darf gerade jetzt die pro-europäischen Kräfte in der Türkei nicht im Stich lassen.»
Österreich fordert endgültigen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche
Scharfe Worte kommen auch aus Österreich. Bundeskanzler Sebastian Kurz hat angesichts der annullierten Istanbuler Bürgermeister-Wahl erneut das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. «Wer demokratische Wahlen nicht akzeptiert, hat in der EU nichts verloren», sagte er. Die Türkei habe sich seit Jahren – insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 – in immer grösseren Schritten von der EU entfernt. «Es gibt immer noch starke systematische Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit», sagte Kurz am Dienstag.
In Brüssel beobachtet man das Wahl-Chaos in der Türkei entsprechend mit Sorge. Schliesslich ist die Türkei nicht nur ein wichtiger Partner, wenn es um den Schutz der EU-Aussengrenzen geht, sondern auch offizieller EU-Beitrittskandidat – auch wenn die Verhandlungen im vergangenen Sommer vorläufig eingestellt wurden.
Die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn fordern eine Erklärung für die Wahl-Wiederholung. In einer gemeinsamen Erklärung vom Montagabend heisst es, die Gründe für die «weitreichende Entscheidung» der Wahlbehörde, die in einem «höchst politisierten Kontext» getroffen worden sei, müssten «unverzüglich für eine öffentliche Überprüfung bereitgestellt werden».
«Schweiz macht keine starke Figur»
Dass Erdogan so schalten und walten kann, ist allerdings auch die Schuld der Europäischen Union. Türkei-Experte Hans-Lukas Kieser: «Erdogan ist von der EU mit Samthandschuhen angefasst worden. Die Opposition hat keine spürbare Unterstützung aus Europa erhalten.» Noch 2015 stärkte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dem türkischen Machthaber den Rücken. Sie fürchtete angesichts der Flüchtlingskrise um ihren Verbündeten.
Die Schweiz hält bislang die Füsse still. Kieser: «Die Schweiz als Musterschülerin der Demokratie hat im Umgang mit der autoritär gewordenen Türkei alles andere als eine starke Figur gemacht.» Auf Anfrage erklärt ein EDA-Sprecher am Dienstagnachmittag: Man betrachte die Entwicklungen «mit grosser Sorge». Das EDA rufe die türkischen Behörden dazu auf, alle notwendigen Bedingungen für freie und faire Wahlen vor dem Wahltag gemäss internationalen Grundsätzen zu überprüfen und sicherzustellen.
Am 23. Juni soll die Bürgermeisterwahl in Istanbul wiederholt werden. Die Opposition hat bislang die Nase vorn. Sie profitiert auch von der schwachen Wirtschaft. Nach Erdogans Entscheidung geriet die türkische Lira weiter unter Druck. Im Chaos um die Wahl in Istanbul hat Ekrem Imamoglu an Popularität noch zugelegt. Wer von Seiten der AKP antritt, ist noch nicht bekannt. Erdogan ist vom Ergebnis seines Kandidaten enttäuscht – und kann es sich kaum leisten, Istanbul erneut zu verlieren.