Wie begrüsst man Interviewpartner in Zeiten von Corona? Vielleicht so: abklatschen mit den Füssen. Einmal links, einmal rechts. «Das gefällt mir», freut sich Hans-Rudolf Pfeifer, der BLICK in seiner Praxis in Affoltern am Albis ZH empfängt. Der Psychiater ist offen für Neues. Er hat schnell in den Krisenmodus geschaltet: Die Hälfte seiner Patienten behandelt er nun per Telefon. BLICK wollte persönlich auf die Couch, in Pfeifers Praxis steht aber keine.
BLICK: Herr Pfeifer, wo ist Ihre Couch?
Hans-Rudolf Pfeifer: In meiner Methode ist die persönliche Begegnung das Entscheidende, deswegen sitzen mir meine Patienten gegenüber. Auf einer Couch liegt der Patient und der Psychiater hört zu. Ich bin lieber im Dialog.
Dann würde ich gerne mit Ihnen über das komische Beklemmungsgefühl in meiner Brust sprechen, das ich seit kurzem habe. Woher kommt das?
Das ist der typische Ausdruck einer diffusen Angst, die sich in uns breitmacht. Dieses Coronavirus hat etwas Unheimliches an sich, ist bedrohlich und kann sowohl durch engste Freunde wie durch ärgste Feinde übertragen werden. Das ist der beste Nährboden für Angst. Der ganze Hype um Hamsterkäufe von WC-Rollen ist vielleicht auch ein Ausdruck, dass wir alle irgendwie «Schiss» haben.
«Soziale Distanzierung» ist der Schlüsselbegriff im Kampf gegen das Virus, die Ausgangssperre ist noch nicht vom Tisch. Was macht das mit uns?
Gerade hier zeigt sich die paradoxe Auswirkung des Virus. Es entfernt und entfremdet uns zunächst, es entleert Plätze, Büros und Fabriken. Der Mensch ist also auf sich selbst zurückgeworfen, und das vertragen nicht alle gleich gut. Dennoch bringt es auch eine grosse Solidarität, eine neue Verbundenheit und Nähe, eine veränderte Bereitschaft zur Kommunikation, ein neues Gemeinschaftsgefühl als «Schicksalsgemeinschaft» sowie viel Kreativität hervor.
Klingt fast positiv.
Eine Familie, die ich kenne, musste zwei Wochen in Quarantäne. Die waren am Anfang völlig perplex. Dann haben sie angefangen, sich neue Strukturen zu schaffen: gemeinsam ein bisschen Frühsport, miteinander singen, etwas Homeschooling, ein bisschen Spiele oder Bücher vorlesen etc. Am Schluss fanden sie, das sollte man eigentlich jedes Jahr wiederholen. Einige meiner Patienten sind Lehrer und leitende Angestellte und total gefordert bzw. überfordert in ihrem Beruf. Vielen tut die Zwangspause jetzt gut, endlich mal kein Leistungsdruck mehr.
Braucht unsere gehetzte Gesellschaft genau das?
Eine grössere Entschleunigung können wir uns zumindest kaum vorstellen, Jogi Löw nannte es gar betroffen ein «kollektives Burn-out». Ich sehe es gern als zwar nicht ganz freiwillige Fastenzeit: als einen selbst gewählten und temporären, lohnenden Verzicht für ein höheres Ziel – am Ende stehen wieder unsere Freiheit und das gemeinsame Feiern.
Junge feiern Corona-Partys und Rentner gehen raus, obwohl sie zur Risikogruppe zählen. Sind die alle egoistisch oder gar dumm?
Zu viele unterschätzen wohl immer noch die fatalen Auswirkungen einer schnellen Ausbreitung, sowohl für die Gefährdung der älteren Menschen wie auch die drohende totale Überlastung für das Gesundheitssystem. Jetzt ist wirklich jeder gefordert, persönliche Verantwortung zu übernehmen und seinen Beitrag zu leisten. Jüngere Menschen spielen die Gefahren häufig runter und zeigen sich leichtsinnig, ältere Menschen lassen ungern von ihren Gewohnheiten und befürchten noch stärkere Vereinsamung als bisher schon.
Also ist der Starrsinn der Alten eine Angstreaktion?
Angst kann zu drei Reaktionen führen: Kämpfen, Fliehen oder Erstarren. Kämpfen im positiven Sinn heisst aktive, verantwortliche Schritte tun, aber kein leerer Aktivismus und keine aggressiven Reaktionen. Flüchten kann negativ bedeuten, sich zuzudröhnen mit Konsum sozialer Medien oder mit Konsum von Suchtmitteln, oder positiv das Meiden von gefährdenden Situationen. Erstarren ist wohl eine Erstreaktion, dass wir es nicht wahrhaben wollen, was gerade geschieht, aber es darf nicht zu Resignation oder Verzweiflung führen.
Was hilft, wenn alles ganz schlimm scheint?
Mut, sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen. Vertrauen, dass wir getragen und geborgen sind trotz bedrohlicher Umstände und wieder bessere Zeiten kommen. Da kann auch der Glaube helfen. Und Humor ist ganz wichtig für die Bewältigung von Angst! Es zirkulieren wunderbare Cartoons und Kurzvideos dazu.
Die Krise bringt aber auch konkrete Existenzängste mit sich: Kurzarbeit, möglicherweise Jobverlust.
Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein, die sie vor dem Coronavirus war. Darauf sollten wir uns einstellen. Rasche Hilfe rollt an. Jetzt nur nicht verzweifeln oder Kurzschlussreaktionen machen. Wichtig ist, den Selbstwert nicht von unseren Leistungen, unserem Besitz und der Meinung anderer abhängig zu machen. Wir sind bedingungslos wertvoll als Personen, unabhängig von allen äusseren Umständen! Das können wir gerade jetzt lernen und erfahren, eingebettet in die grosse gemeinsame Solidarität.
Aber es ist doch schlimm, nicht zu wissen, wann das alles vorbei ist.
Ich glaube, viele Menschen haben jetzt eine grosse Chance, mit solchen Herausforderungen im Leben umgehen zu lernen. Wissen Sie: Angst ist ansteckend, Hoffnung noch mehr. Aber es gibt auch Menschen, die in so eine Verzweiflung oder Blockade reinkommen, dass sie in dieser Angst gefangen sind. Und wenn sich die Angst krankhaft steigert, kann das bis zur Panik gehen.
Was tun, wenn das passiert?
Wenn jemand da nicht selber rauskommt, dann braucht es vielleicht auch besondere Hilfe und Unterstützung durch Fachleute.
Werden wir je wieder zu unserem Leben zurückkehren, wie es vor Corona war?
Keiner kann in die Zukunft schauen. Ich bin mir aber sicher: Wir werden durch die Krise kommen, es gibt ein Danach und ein Darüberhinaus. Es findet wohl die grösste globale Transformation unserer Werte statt, die es seit langem gegeben hat. Wir werden nicht mehr alles als so selbstverständlich nehmen. Vielleicht zählen künftig für die Einzelnen, für Gesellschaft und sogar die Wirtschaft mehr echte Beziehungen, Bescheidenheit, Achtsamkeit, Dankbarkeit, Versöhnung und Solidarität. Wenn wir durch die Corona-Krise hindurch sind, kann uns wohl nicht mehr so viel erschrecken.
Mehr als 30 Jahre Berufserfahrung hat der Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer (63). Der Existenzanalytiker – eine auf den Holocaust-Überlebenden Viktor E. Frankl (1905–1997) zurückgehende Behandlungsform – engagiert sich für die personenzentrierte Medizin. Seine Fachtagungen müssen jetzt zwar erst mal ausfallen, aber Pfeifer ist optimistisch: «Nächstes Jahr machen wir sie noch besser!»
Mehr als 30 Jahre Berufserfahrung hat der Psychiater Hans-Rudolf Pfeifer (63). Der Existenzanalytiker – eine auf den Holocaust-Überlebenden Viktor E. Frankl (1905–1997) zurückgehende Behandlungsform – engagiert sich für die personenzentrierte Medizin. Seine Fachtagungen müssen jetzt zwar erst mal ausfallen, aber Pfeifer ist optimistisch: «Nächstes Jahr machen wir sie noch besser!»