In schwierigen Zeiten für die EU haben Deutschland und Frankreich mit einem neuen Freundschaftspakt ein Zeichen der Solidarität gesetzt – und sich ihrer gegenseitigen Unterstützung versichert. 56 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrages unterschrieben die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (64) und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron (41) im Krönungssaal des Aachener Rathauses am Dienstag einen deutsch-französischen Vertrag. Damit wollen beide Länder auch ihrer europäischen Verantwortung gerecht werden.
Der Vertrag geht vielen zu weit. So hatte die Rechtspopulistin Marine Le Pen (50) behauptet, der Vertrag werde dazu führen, dass die französische Grenzregion Elsass zum Teil unter deutscher Kontrolle stehe.
Was bedeutet dieser Vertrag? Der deutsch-schweizerische Doppelbürger Klaus Armingeon (64), Professor für Vergleichende Politik und Europapolitik an der Uni Bern, beantwortet die wichtigsten Fragen zum umstrittenen Vertrag. Und er sagt: Das Abkommen hat auch Auswirkungen auf die Schweiz!
BLICK: Was steht denn so Schlimmes im Vertrag?
Klaus Armingeon: Der Vertrag ist viel weniger weitgehend als oft gesagt: Er legt in seinen 28 Artikeln fest, dass mindestens viermal pro Jahr ein Minister des jeweils anderen Landes an Kabinettssitzungen teilnehmen soll. Es wird zwar einen Verteidigungs- und Sicherheitsrat geben, er wird aber nur gemeinsame Vorhaben koordinieren. Weiter geht er nicht. Ein Wirtschaftsrat soll einen gemeinsamen Wirtschaftsraum anstreben, wobei es zunächst um eine bessere Zusammenarbeit in den Grenzregionen geht. Man will sich gemeinsam um künstliche Intelligenz kümmern. Städtepartnerschaften sollen finanziell gefördert werden soll.
Worauf basiert dieser Vertrag?
Der Vertrag setzt fort, was am 22. Januar 1963 im sogenannten Élysée-Vertrag zwischen dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle und dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer begonnen wurde: Die Absicht und das ernste Bekenntnis, dass die einstmals verfeindeten Länder friedlich zusammenarbeiten sollen. Dabei bilden sie in der Tat eine Achse, die zentral für die Europäische Union ist – aber eben schon seit 50 Jahren!
Ist es nicht ein Affront gegenüber der EU, wenn zwei Mitgliedsstaaten bilaterale Verträge abschliessen?
Seit vielen Jahren ist klar, dass die europäische Integration die Mitgliedsländer unterschiedlich stark erfasst. Einige Länder wollen vorpreschen, weil sich andere Mitgliedsländer einer weiteren Zusammenarbeit verweigern. Dies ist in den Verträgen der EU vorgesehen und erlaubt, und die Kommission und die zurückbleibenden Mitgliedsstaaten beäugen die «vertiefte Zusammenarbeit» kritisch – immer bereit, auf die Bremse zu treten.
Warum schliessen sich Merkel und Macron gerade jetzt zusammen?
Im Mai sind Wahlen zum Europäischen Parlament, die weit weniger wichtig sind als nationale Wahlen. Aber sowohl dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron als auch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel pfeift ein eiskalter Wind um die Ohren: In Deutschland sind das die Rechtspopulisten, in Frankreich sind das die Rechtspopulisten und die Bewegung gegen die Reformen Macrons, die sogenannten «Gelbwesten». Merkel und Macron signalisieren mit diesem Vertrag nach aussen, dass sie eine positive Sichtweise einer helleren Zukunft haben – und hoffen wahrscheinlich, damit die Negativität der Kritiker im eigenen Land etwas einzudämmen oder etwas dagegenzusetzen.
Hat diese deutsch-französische Liebschaft auch einen Einfluss auf die Schweiz?
Es ist nicht so, dass wir von einem sicheren Logenplatz aus ein Theater beobachten, dessen Ausgang uns kalt lassen kann. Wir sitzen mitten drin. Die Schweiz ist so stark von Europa abhängig, dass wir guten Grund haben zu hoffen, dass sich die EU konsolidiert. Unter dem No-Deal-Brexit, einer erneut ausbrechenden Flüchtlings- oder Eurokrise werden wir nicht viel weniger leiden als die Mitgliedsstaaten der EU. Und dann können wir über das Händchenhalten von Merkel und Macron durchaus froh sein, wenn es irgend etwas zu Stabilisierung Europas beitragen sollte.