Mario Delfino (63) hat eine freundliche Ausstrahlung und einen festen Händedruck. Agnes Würgler (74) trägt eine bunte Brille und lächelt hie und da verschmitzt. Kaum jemand ahnt, dass sie ein tragisches Schicksal teilen.
Die beiden gehören zu jenen Schweizern, die im letzten Jahrhundert in Heime gesteckt und systematisch misshandelt wurden. Viele jener Häuser waren kirchlich geführt. Gebrochen wirken Würgler und Delfino dennoch nicht. Sie haben es geschafft, auf eigenen Beinen zu stehen und eine Familie zu gründen – etwas, was vielen Leidensgenossen verwehrt blieb.
Gestern erzählten sie dem Papst stellvertretend für alle Betroffenen ihre Geschichte. Das Treffen kam durch Guido Fluri (52) zustande, dem Initiator der Wiedergutmachungs-Initiative. Seit Jahren kämpft er als Vertreter der Opfer dafür, dass das Leid der Heimkinder vom Vatikan bei einem Treffen anerkannt wird. Nun lud Papst Franziskus zu einer Privataudienz. Geholfen hat wohl auch der Titel eines Ehrendoktors, den Fluri kürzlich von der Theologischen Fakultät Luzern verliehen bekam.
Einfach verzeihen geht nicht
Delfino verspürt keinen Hass auf die Kirche. Es seien die Menschen, die böse seien. Ihnen einfach zu verzeihen, das gehe aber nicht. Vor dem Abflug nach Rom am Freitag hatte er darum vor allem einen Wunsch: «Ich möchte, dass der Papst hinsteht und sich entschuldigt.»
Das Oberhaupt der katholischen Kirche tat es: «Der Papst bat bei unserer Audienz um tiefe Vergebung und entschuldigte sich für alle Missbrauchsopfer in der Schweiz», sagte Initiator Fluri kurz nach der Audienz am Samstag. «Er hat Täter, die Kinder missbrauchen, als Monster und als krank bezeichnet und gesagt, dass sie weltlichen Gerichten zugeführt werden müssen, um die Gesellschaft zu schützen.» Fluri weiter: «Ich hatte nicht das Gefühl, dass er etwas vertuschen will. Er hat die Taten nicht relativiert und sich ohne Wenn und Aber entschuldigt.» Der Papst sei von der Schilderung des Schicksals von Delfino und Würgler zutiefst erschüttert gewesen.
Der gebürtige Italiener Mario Delfino ist seit 25 Jahren mit einer «sehr lieben und geduldigen» Frau verheiratet, hat eine enge Beziehung zu seinem Sohn und arbeitet als Hauswart an einer Schule. Als junger Mann kam er über Umwege in Kontakt mit Ernst Sieber: «Das war für mich der Sechser im Lotto!» Der reformierte Zürcher Pfarrer nahm Delfino bei sich auf. Jahrelang lebte er bei Sieber, liess seinen Sohn bei ihm taufen und trägt noch immer ein Foto von ihm mit sich. Bevor er Sieber begegnete, war Delfinos Leben von Gewalt und Einsamkeit geprägt. Er wuchs in Heimen und bei Adoptiveltern auf, bis er mit elf Jahren wegen eines Lausbubenstreichs in die Erziehungsanstalt St. Georg in Bad Knutwil LU gesteckt wurde. In dem von Mönchen geführten Heim widerfuhr ihm Schreckliches: «Sie schlugen uns regelmässig so fest, dass wir happig aussahen. Ich blutete oft zum Ohr, zur Nase aus. Manchmal sahen wir nichts mehr.»
Noch schlimmer sei auch die Machtlosigkeit gewesen, als es dann immer wieder zu sexuellen Übergriffen kam: «Ein Bruder stellte uns in einer Reihe auf und lief dann hinter uns hin und her, mit dem Rosenkranz in der Hand, und fasste sich zwischen den Beinen an. Ich hoffte immer, dass ich in die Hosen pinkeln muss, damit ich nicht dran kam. Aber das Schlimmste war, dass neben mir Kinder zitternd da sassen und in die Leere schauten oder ohnmächtig wurden. Das vergesse ich nie, nie mehr.»
Erst Prügel, dann Predigt
Auch der Pfarrer des Heims habe sich an ihm vergangen. «Ich musste ihm vor der Messe das Priestergewand anziehen und dabei immer wieder anfassen. Wenn ich das nicht richtig machte, liess er mich auf einen Holzlineal knien oder verprügelte mich, bis ich Nasenbluten hatte. Und dann hat er in der Predigt von Liebe geredet.» Wenn Delfino von dieser Zeit erzählt, vermeint man den ängstlichen Jungen in ihm zu sehen, immer hoffend, diesmal nicht ausgewählt zu werden. «Ich bin schier gestorben vor Einsamkeit», sagt er.
Im Alter von 15 Jahren las er den Roman «Papillon» von Henri Charrière. «Darin schreibt der Autor, dass man nicht aufgeben soll.» Delfino weint jetzt, zieht den Ärmel seines Pullis hoch, deutet auf einen verblassten, kindlich gezeichneten Schmetterling (französisch: Papillon), den er sich in der Schule selbst auf den Arm tätowierte.
Auch Agnes Würgler hat Unsägliches erlebt – und 40 Jahre lang geschwiegen. Schon früh wurden sie und ihre Geschwister der kranken Mutter weggenommen. In dem von katholischen Nonnen geführten Kinderheim in Malters LU habe Gewalt System gehabt, so die 74-Jährige. «Wir wurden wegen Kleinigkeiten verprügelt.» Kind sein durfte sie nie. Einmal habe sie bei der schweren Arbeit im Garten eine Erdbeere genascht. «Da hat eine Schwester meinen Kopf in den Brunnen gehalten, bis ich fast ertrunken bin. Noch heute holt mich das immer wieder ein.» Auch Würgler und ihre Brüder wurden sexuell missbraucht – bevor sie 30 Jahre alt wurden, nahmen sich die beiden das Leben.
Auch Delfino verlor seinen besten Freund im Heim durch Suizid. Seine Stimme bricht: «Gilbert hat sich erhängt. Er war elf Jahre alt. Ich habe nicht einmal gewusst, was das bedeutet», sagt er. «Ich wurde dann von einem Bruder verprügelt und in die Dunkelkammer gesteckt. Der sagte mir, ich sei schuld.» Delfinos Augen füllen sich wieder mit Tränen. Bis heute weiss er weder, wie Gilbert mit Nachnamen heisst, noch ob er begraben wurde.