Nach Mayday in Grossbritannien
Warum Boris Johnson die Tories retten kann

Nur Stunden nach Theresa Mays Rücktrittserklärung stand in Interlaken ein bestens gelaunter Boris Johnson auf der Bühne. Er hat gute Chancen, sie in Downing Street zu beerben.
Publiziert: 26.05.2019 um 00:08 Uhr
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Aktualisiert: 27.05.2019 um 09:47 Uhr
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Ex-Aussenminister Boris Johnson bringt sich ausgerechnet in Interlaken in Stellung für die May-Nachfolge.
Foto: Keystone
Fabienne Kinzelmann

Am Freitag sagte die scheidende Premierministerin unter Tränen: «Das Amt war die grösste Ehre meines Lebens.» 
14 Tage später, am 7. Juni, wird Theresa May (62) die Führung der britischen Konservativen abgeben. Nur drei Stunden, nachdem sie vor Downing Street 10 bittere Tränen vergoss, stand ihr möglicher Nachfolger Boris Johnson (54) triumphierend auf einer Bühne in Interlaken BE.

Seinen 40-minütigen Auftritt beim Swiss Economic Forum hatte Mays Hauptwidersacher innerhalb der Konservativen Partei, Ex-Bürgermeister von London, Ex-Aussenminister und möglicher nächster Premierminister Gross­britanniens erst vor einer Woche zugesagt: «Heute ist ein sehr guter Tag, nicht in London zu sein», witzelte Johnson. Zu Hause hätte er sich wohl deutlich härteren Fragen ­stellen müssen. In Interlaken konnte er moderate Töne anschlagen.

Für die am Brexit-Chaos gescheiterte Premierministerin hatte Johnson plötzlich warme Worte übrig. May habe «unglaublich hart» ge­arbeitet, er sei ihr sehr dankbar.

Hier verkündet May den Rücktritt unter Tränen
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Nach dem Brexit-Drama:Hier verkündet May den Rücktritt unter Tränen

May folgte ihrem Verantwortungsgefühl

May hat sich nie davon erholt, dass sie nach vorgezogenen Neuwahlen 2017 die Mehrheit verlor. Ihre politischen Gegner, Öffentlichkeit und Medien gingen nicht zimperlich mit ihr um, mehr als einmal wurde der «Mayday» ausgerufen.
Doch May hielt sich. Sie ging nicht, als sie die erste Abstimmung über ihren Brexit-Deal verlor. Auch nicht nach der zweiten und der dritten Niederlage. Zwar klammerte sie sich nicht an die Macht, folgte aber ihrem unbedingten Verantwortungsgefühl, das ihr als Pfarrerstochter in die Wiege gelegt worden war.

Sie zog erst dann die Reissleine, als Partei und Opposition nicht mehr auf ihren letzten Kompromissversuch eingehen wollten.

May kam wegen des Brexit ins Amt. Nun geht sie wegen des ­Brexit. Johnson, der nun nach ihrem Amt greift, scheute nach dem ­Referendum 2016 noch die Verantwortung für die Durchsetzung des ­EU-Austritts. Er wurde Aussen­minister – und trat 2018 zurück.

Grösster Rückhalt bei den Tories

Aktuell droht ihm ein Prozess, weil er in der Brexit-Kampagne ­falsche Angaben über die Kosten der EU-Mitgliedschaft gemacht haben soll. Er behauptete wider besseres Wissen, Grossbritannien zahle ­wöchentlich 350 Millionen Pfund an die Europäische Union.

Trotzdem könnte nun ausgerechnet er die angeschlagenen Tories retten. Zum einen ist ihm selbst klar, dass die Brexit-Versprechen utopisch waren. Johnson zielt deswegen auch gar nicht mehr auf eine Verlängerung – er ist im Gegensatz zu May bereit zu einem Brexit ohne Deal. Und obwohl er unmittelbar nach Mays Rücktrittsankündigung in den Umfragen zurückfiel, geniesst er bei den zutiefst gespaltenen Tories noch den grössten Rückhalt.

Das wichtigste Argument für Johnson jedoch dürfte die EU-Wahl liefern, die im Vereinigten Königreich bereits am Donnerstag über die Bühne ging. Resultate werden zwar erst kommende Woche ver­öffentlicht, doch die Umfragen deuten auf ein Ergebnis im unteren zweistelligen Bereich für die Konservativen hin.

EU verlassen – «mit oder ohne Deal»

Labour könnte auf rund ein Dutzend Prozent mehr Stimmen kommen als die Tories, klarer Gewinner ist Nigel Farages Brexit-Partei. Kommt es in den nächsten Monaten zu Neuwahlen, wäre Johnson nach einer Umfrage von Mitte Mai der einzig mögliche May-Nachfolger, welcher der Opposition und den rechten Kräften im Land das Wasser abgraben kann.

In Interlaken erteilte er dem von May zuletzt ins Spiel gebrachten zweiten Referendum eine Absage – genauso wie einer weiteren Fristverlängerung für den Brexit: «Wir verlassen die EU am 31. Oktober – ob mit oder ohne Deal.»
Seine Konkurrenten um den Parteivorsitz, der traditionell mit dem Anspruch auf das Amt des Premierministers verknüpft ist, hat er inzwischen weit hinter sich gelassen. Die britischen Buchmacher geben ihm eine 50-Prozent-Chance.

Ex-Brexit-Minister Dominic Raab (45) ist ihm noch am dichtesten auf den Fersen, kommt in Umfragen aber nur auf 14 Prozent. Es spricht einiges dafür, dass Johnson bereits einflussreiche Tories wie den ­ Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg (50) und die Arbeitsministerin Amber Rudd (45) hinter sich hat.

In Interlaken machte er keinen Hehl daraus, dass es Grossbritan­nien heute vor allem wegen der EU so gut geht. Die Zukunft aber liege ausserhalb der europäischen Währungs- und Wertegemeinschaft. 

Die komplette Brexit-Chronologie

Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.

BLICK zeigt die wichtigsten Stationen des chaotischen Prozesses seit dem Austrittsvotum der Briten auf.


Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.

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