BLICK: Kenneth Bae, Sie lebten fast zwei Jahre lang in einem Gefängnis in Nordkorea. Haben Sie Kim Jong Un kennengelernt?
Kenneth Bae: Nicht persönlich, ich habe ihn aber täglich am Fernsehen gesehen.
Wie äussern sich die Nordkoreaner über ihren Führer?
Sie nennen ihn den Marschall. Die Nordkoreaner sprechen in der Öffentlichkeit kaum über ihn. Wenn sie über ihn reden, dann mit grossem Respekt. Es gibt auch keine Bilder von ihm, nur von seinem Vater und Grossvater, den sogenannten Ewigen Führern.
Ist Kim Jong Un wirklich so gefährlich, wie es immer heisst?
Man muss ihn und seine Drohungen ernst nehmen, denn er verfügt tatsächlich über die Möglichkeit, andere Länder mit Nuklearwaffen anzugreifen. Ich habe aber eher das Gefühl, dass Nordkorea das Atomprogramm als Abschreckung benützt, damit das Land selber nicht attackiert wird.
Sie glauben also nicht, dass Kim Jong Un einen Erstschlag ausführen wird?
Höchstens bei sehr grosser, direkter Bedrohung.
Wie muss man mit Kim Jong Un umgehen, um ihn zur Vernunft zu bringen?
Die Sanktionen sind eine deutliche Botschaft, dass der Westen sein Verhalten nicht toleriert. Sie tun ihm weh.
Werden die Olympischen Spiele in Südkorea eine Entspannung bringen?
Bestimmt, aber nur vorübergehend. Nach den Spielen wird wohl alles wieder beim Alten sein, wenn die USA und Südkorea wieder gemeinsame Militärmanöver durchführen.
Wie haben Sie das Land selber kennengelernt? Wie sind die Leute?
In Nordkorea leben 25 Millionen Menschen, die unterdrückt werden. Sie sind da geboren, sie haben keine Wahl.
Gibt es eine Opposition?
Ich bin sicher, dass es eine Opposition im Untergrund gibt. Viele Leute sind aber geflohen und erheben sich vom Ausland aus gegen das Regime. Als wichtige Stimme der Opposition gilt ein nordkoreanischer Botschafter in Grossbritannien, der sich 2016 nach Südkorea abgesetzt hat.
Die Nordkoreaner sind täglich Kim Jong Uns Propaganda ausgesetzt. Wurden auch Sie beeinflusst?
Jeden Tag. Denn im Gefängnis gab es nur einen Kanal, auf dem sich 70 bis 80 Prozent der Sendezeit alles um Kim Jong Un drehte. Man berichtet über seine Raketenerfolge, man singt für ihn, man preist ihn. In allen Sendungen wurde gesagt, wie gut und schön das Land sei. Ich schaute immer nach der Arbeit, am Sonntag sogar den ganzen Tag!
Und? Hat Sie die Propaganda beeinflusst, verstehen Sie Kim Jong Un nun besser?
Wenn man monatelang solchen Sendungen ausgesetzt ist, geht das nicht ganz spurlos an einem vorbei. Ich kann nun zumindest verstehen, dass die Leute, die da geboren wurden, ihn so verehren. Sie können gar nicht anders, sie kennen nichts anderes.
Sie waren christlicher Missionar. Beteten Sie in Ihrer Gefangenschaft?
Natürlich! Ich betete für mich und für die Menschen, dass sie in Freiheit leben können.
Beteten Sie auch für Kim Jong Un?
Ja, ich betete auch für ihn. Dass er sich um seine 25 Millionen Nordkoreaner kümmert und an die 50 Millionen Menschen in Südkorea denkt.
Denken Sie heute noch oft an Nordkorea?
Ich setze mich heute für Flüchtlinge, hauptsächlich aus Nordkorea, ein. Daher ist das Land bei mir täglich präsent. Es ist Teil meines Lebens.
Kommt Ihnen Ihre Leidenszeit manchmal hoch?
Ja. Dann singe ich das Lied, das ich im Gefängnis immer am Fernsehen gehört habe.
Nordkorea gilt bei Touristen als Geheimtipp. Empfehlen Sie eine Reise dahin?
Nicht in diesem Moment. Es ist zu gefährlich, die Sanktionen des Westens wirken.
Gibt es einen Menschen, dem Sie speziell etwas mitteilen möchten?
Ja, US-Präsident Donald Trump. Er hat ein wichtiges Zeichen gesetzt, als er an seiner Rede zur Lage der Nation einen nordkoreanischen Flüchtling vorstellte. Herr Trump, bitte setzen Sie sich weiterhin für Menschenrechte in Nordkorea ein!
Was ist Ihr grösster Wunsch?
Ich möchte erleben, wie sich die südkoreanischen und nordkoreanischen Familien in die Arme schliessen und Korea zu einer vereinten, florierenden und friedlichen Halbinsel wird.