Es sind nicht mehr viele Hilfsorganisationen, die sich noch nach Libyen wagen. Als eine von wenigen Gruppen arbeitet Médecins Sans Frontières (MSF) weiter mit internationalen Mitarbeitern in dem nordafrikanischen Land.
Ihre Berichte klingen erschütternd: Frauen in Internierungslagern werden sexuell missbraucht, in die Prostitution gezwungen oder seien nach Vergewaltigungen schwanger. Der deutsche MSF-Arzt Tankred Stöbe (48) war schon in vielen Krisengebieten tätig. Eine Verzweiflung wie bei den Frauen dort habe er selten gesehen.
Menschenunwürdige hygienische Bedingungen
Besonders in Erinnerung blieben ihm 40 Nigerianerinnen, die in einem seeuntauglichen Schlauchboot aufs Mittelmeer hinausgetrieben, von der Küstenwache abgefangen und in ein Internierungslager gebracht worden waren. Viele litten unter Krätze, eine Folge unzumutbarer hygienischer Bedingungen. Wo sanitäre Anlagen hätten stehen sollen, sei der Boden knöcheltief von Exkrementen bedeckt gewesen.
Zweithäufigstes Leiden seien Schmerzen, die sich nicht genau lokalisieren liessen. Stöbe: «Wir wissen, dass generalisierte Körperschmerzen oft eine Folge von sexueller Gewalt sind.»
Was er bei drei Besuchen in Libyen gesehen hat, macht den Mediziner wütend: Die europäischen Regierungen wüssten genau, was in den Lagern vor sich gehe, dass die Menschen dort Folter, Gewalt und Zwangsarbeit ausgesetzt seien.
Geld aus Europa erreicht die Bedürftigen nicht
Es sei zynisch zu glauben, die Lage könne verbessert werden, indem man die libysche Küstenwache aufrüste oder Geld ins Land schicke – die Notleidenden erreiche es nicht. Um die gehe es den europäischen Regierungen wohl auch kaum, eher darum, die Flüchtenden fernzuhalten und ihr Leid nicht mitansehen zu müssen, so der Arzt.
Zehntausende Flüchtlinge werden derzeit in solchen Internierungslagern festgehalten. Viele erzählten Stöbe, dass sie in ihr Heimatland zurückwollen. Da ihnen Pass und Geld abgenommen wurde, sei dies aber unmöglich. Ihre einzige Chance, Libyen zu verlassen, sei der Weg mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer.