Fällt jetzt Europas letzter Diktator?
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Lukaschenko unter Druck
Fällt jetzt Europas letzter Diktator?

Machthaber Alexander Lukaschenko lehnt Neuwahlen in Belarus ab. Doch wie lange kann er sich noch halten? BLICK beantwortet die wichtigsten Fragen zum Belarus-Protest.
Publiziert: 18.08.2020 um 22:59 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2020 um 12:51 Uhr
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Lukaschenko klammert sich an die Macht.
Foto: imago images/Russian Look
Fabienne Kinzelmann

Lukaschenko steht unter Druck. Seit der Wahl vor einer Woche, bei der sich der weissrussische Diktator mit 80 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärt hatte, gehen Jung und Alt gegen ihn auf die Strasse, Fotos und Videos der brutalen Polizeigewalt und von Folteropfern sorgen weltweit für Entsetzen.

Ein Auftritt vor Fabrikarbeitern am Montag geriet zur Farce. «Tritt ab!», forderten die Menschen zu Tausenden. Lukaschenko wirkt verunsichert, nach einer nur knapp achtminütigen Rede rauscht er beleidigt von. «Er realisiert nur sehr langsam, dass er die Macht verloren hat», sagt ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg zu BLICK. Reicht die Wut der Belarussen, um den Mann zu Fall zu bringen, der das Land seit 26 Jahren führt? BLICK beantwortet die sieben wichtigsten Fragen.

1. Warum sind die Proteste so aussergewöhnlich?

Frauen in Menschenketten, mit Blumen in den Händen, Hunderttausende Menschen, die nachts durch die Strassen ziehen, hupen, lautstark protestieren: Es sind die grössten Demonstrationen, die Belarus je erlebt hat. «Da ist eine Zivilgesellschaft erwacht», beobachtet ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg.

Selbst ehemalige Unterstützer von Lukaschenko haben den Diktator, die wirtschaftliche Instabilität und das schlechte Corona-Krisenmanagement satt. Die Streiks schmerzen Lukaschenko besonders: Journalisten von staatlichen Medien weigern sich, seine Propaganda weiterzuverbreiten, Fabriken stehen still.

Der Ausstand in allen wichtigen Staatsbetrieben solle den Machtapparat zum Aufgeben zwingen, sagte Maria Moros, Wahlkampfleiterin der Oppositionellen Swetlana Tichanowskaja (37). «Wir machen der scheidenden Macht begreiflich, dass es kein Zurück geben wird.»

2. Welche Rolle spielen Frauen?

Frauen sind beim Protest in Belarus zentral. Trotz der traditionellen Geschlechterrollen in Belarus traten im Wahlkampf gleich drei Frauen geschlossen als Herausforderinnen auf – sie repräsentierten drei Männer, die von der Wahl ausgeschlossen wurden. Swetlana Tichanowskaja (37), Veronika Zapkala (44) sowie Maria Kolesnikowa (Alter unbekannt) wurden zu Symbolfiguren.

Nach der brutalen Reaktion der Polizei auf die Demonstrationen strömten die Frauen in weisser Kleidung und mit Blumen auf die Strasse, sie umarmten Sicherheitskräfte und forderten demonstrativ friedlich einen Wandel im politischen System.

3. Wie sicher sind Neuwahlen?

Die Opposition fordert Neuwahlen, Lukaschenko lehnt sie ab. Der weissrussische Diktator klammert sich an die Macht. Neuwahlen könnten in ein oder zwei Jahren stattfinden, verkündete er als Reaktion auf die Proteste.

«Die Frage für Lukaschenko war immer, wie die Nachfolge aussieht», sagt Zogg. Für den ETH-Sicherheitsexperten ist klar: «Neuwahlen unter Lukaschenko werden nach Regeln von Lukaschenko stattfinden.»

4. Mischt sich Putin in Belarus ein?

Am Montag sorgten Videos und Fotos von olivgrünen LKWs – vermeintlich auf dem Weg von Russland nach Belarus – in den sozialen Netzwerken für Unruhe. Der Grund: Die nicht gekennzeichneten Wagen ähneln Transportfahrzeugen der russischen Nationalgarde. Belege für eine militärische Intervention gibt es bislang aber nicht.

«Man wartet ab und schaut, welche Alternativen es gibt», sagt der ETH-Sicherheitsexperte Zogg. «Russland wäre sicher bereit, auf eine Nachfolgerin zu setzen und mit ihr zusammenzuarbeiten.»

Für Putin dürfte es jedoch nicht interessant sein, Lukaschenko weiter zu stützen, wenn das russlandfreundliche Volk tatsächlich mehrheitlich nicht mehr hinter dem Diktator steht. Ein möglicher militärischer Eingriff von Moskau könnte auch zugunsten der Opposition ausfallen.

Vor der Opposition muss Putin keine Angst haben: Sie strebt nach den Worten der Regierungskritikerin Maria Kolesnikowa keinen Bruch mit Russland an. «Wir sind der Meinung, dass alle bestehenden Vereinbarungen eingehalten werden müssen», schrieb Kolesnikowa an Alexej Wenediktow, den Chefredaktor des kremlkritischen russischen Radiosenders Echo Moswky. Russland sei ein wichtiger Partner. «Wir verstehen und schätzen das.» Belarus – zwischen dem EU-Land Polen und Russland gelegen – ist wirtschaftlich massiv abhängig vom Dauerverbündeten Moskau.

5. Was macht die EU?

Grossbritannien hat das Wahlergebnis nicht anerkannt, EU-Ratschef Charles Michel (44) für Mittwoch einen Belarus-Sondergipfel angesetzt. «Die EU hat weniger Einflussmöglichkeiten als Russland», erklärt Zogg. Trotz der Skepsis gegenüber Lukaschenko arbeite man bislang pragmatisch zusammen. «Die EU und die Schweiz haben sich aber klar gegen die Gewalt gestellt.» Bereits bestehende Sanktionen wie Reiseverbote gegen einzelne Mitglieder der Regierung könnten ausgeweitet werden.

Auf grosse Interventionen haben die Weissrussen aber keine Lust. «Man will nicht in die EU, sondern eine gute Beziehung zu allen Ländern und Russland behalten», erklärt Zogg. Weitreichende Sanktionen könnten der Demokratiebewegung in Belarus darum auch schaden.

6. Kann Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja Belarus führen?

«Ich bin bereit, in dieser Zeit Verantwortung zu übernehmen und als nationale Anführerin zu handeln», sagte die 37-Jährige am Montag in einer Videobotschaft aus ihrem Exil im EU-Land Litauen. Sie hoffe, dass sich mit diesem Schritt das Land beruhige, alle politischen Gefangenen freigelassen und so bald wie möglich neue Präsidentschaftswahlen angesetzt werden könnten.

Ursprünglich hatte sich Tichanowskaja nur zur Wahl gestellt, weil ihr Mann, der Oppositionelle Sergej Tichanowski, von der Wahl ausgeschlossen und verhaftet worden war. Würde sie bei Neuwahlen erneut antreten, rechnen Beobachter der Pädagogin und zweifachen Mutter hohe Chancen aus.

7. Wie geht es weiter in Belarus?

Die Regierung spielt auf Zeit, zuletzt hat die starke Polizeigewalt gegen Demonstranten nachgelassen. «Das Land hat 100'000 Sicherheitskräfte, aber eine viel grössere Bevölkerung. Die kann man nicht einfach niederknüppeln», sagt Zogg. Gleichzeitig gäbe es nicht «die eine Opposition», die Stimmung ändere sich von Tag zu Tag.«Wichtig ist, dass man in Szenarien denkt.»

Zogg vermutet: Ändert sich nichts, geht der Protest weiter. «Mit den Streiks, den Medienschaffenden und so weiter, die das System nicht mehr stützen wollen, wird der Druck weiter wachsen. Vielleicht sieht man Risse im Sicherheitsapparat», sagt Zogg. «Lukaschenko und seine Minister müssen den Forderungen der Zivilgesellschaft Rechnung tragen. Vielleicht gibt es gewisse Veränderungen wie Wahlen oder Verfassungsänderungen.» Das werden die nächsten Wochen zeigen.

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