Katastrophale hygienische Verhältnisse und Gewalt: Andrea Wegener hilft auf der Insel
«Die Griechen baden es für uns aus!»

Schmutz, Gewalt und Frust sind Alltag auf der griechischen Insel Lesbos. Das Flüchtlingslager Moria kämpft mit neuen Flüchtlingsrekordzahlen, musste allein im Juli und August 6300 Neuankömmlinge bewältigen. Am Mittwoch schmiss der Camp-Leiter hin.
Publiziert: 12.09.2019 um 23:17 Uhr
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Aktualisiert: 19.10.2020 um 12:24 Uhr
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Die Deutsche Andrea Wegener ist seit November 2018 auf Lesbos.
Foto: zVg
Interview: Fabienne Kinzelmann

Moria war das Sinnbild der Flüchtlingskrise. Heute ist der Slum am Rande Europas vom Radar verschwunden. Doch hier auf der griechischen Insel Lesbos, im schlimmsten Flüchtlingslager Europas, zerbrechen noch immer täglich Träume – und stossen Helfer an ihre Grenzen.

Mit den grossen Strömen kamen zu Spitzenzeiten 10’000 Flüchtlinge täglich von der acht Kilometer entfernten Türkei nach Lesbos. Die Anlage verwandelte sich in ein Durchgangslager. Dabei ist sie eigentlich nur für 3100 Menschen ausgelegt – fast viermal so viele sind gerade dort. Die deutsche Helferin Andrea Wegener (44) ist seit fast einem Jahr vor Ort. Im BLICK-Interview berichtet sie von den katastrophalen Zuständen.

BLICK: Frau Wegener, was macht Moria im negativen Sinn so besonders?
Andrea Wegener: Es gab schon so viele Berichte, wie katastrophal die Zustände sind. Das bekommt man aber kaum noch mit, weil es ein Dauerzustand ist und es nicht ständig Tote gibt. Aber Moria ist das grösste der schlimmen Lager und es zeigt den Zustand der Flüchtlingscamps auf griechischen Inseln.

Chronistin der Krise

Autorin Andrea Wegener (44) ist die einzige Deutsche im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. In ihrem Buch «Wo die Welt schreit» schreibt sie über ihre Erlebnisse in der «Hölle am Rande Europas». Seit November 2018 arbeitet sie für die Hilfsorganisation «Global Aid Network» im Camp, verantwortet vor allem das Warenlager ausserhalb der Anlage. Zuvor half sie bereits in den Katastrophengebieten im Irak und auf Haiti – und schrieb auch dort darüber.

Autorin Andrea Wegener (44) ist die einzige Deutsche im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. In ihrem Buch «Wo die Welt schreit» schreibt sie über ihre Erlebnisse in der «Hölle am Rande Europas». Seit November 2018 arbeitet sie für die Hilfsorganisation «Global Aid Network» im Camp, verantwortet vor allem das Warenlager ausserhalb der Anlage. Zuvor half sie bereits in den Katastrophengebieten im Irak und auf Haiti – und schrieb auch dort darüber.

Sie haben hier so viele Menschen wie noch nie. Was bedeutet das für Ihre Strukturen?
Wir haben ein «Gehege» für Neuankömmlinge. Dort gibt es aber nur zwei Toi Toi, ein freistehendes Waschbecken mit Trinkwasser, in der Mitte ein grosses Zelt. Auf den 250 Quadratmetern müssen aktuell 800 Menschen unterkommen. Die Menschen – darunter viele Familien, ein Drittel sind Kinder – sitzen teilweise auf Pappdeckeln und warten einfach nur darauf, dass sie überhaupt ins Lager können.

Allein im Juli kamen dreimal so viele Boote wie im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Woran liegt das?
Wir kriegen alle Weltgeschehnisse immer mit Verzögerung mit. Eine neue Unsicherheit kann für viele Familien den Ausschlag geben, ihre Sachen zu packen. Ein Beispiel: Verhandelt Trump mit den Taliban, haben wir zwei Monate später mehr Afghanen. Gerade haben wir viele Syrer. Viele von ihnen haben jahrelang in der Türkei gelebt. Aber es gibt Gerüchte, dass die Türkei Menschen zurück nach Syrien schickt. Da haben viele Panik und machen sich auf den Weg. Und natürlich finden Schlepper auch neue Wege.

Camp-Leiter gibt auf

Mindestens 500 Migranten sind am Donnerstag vergangener Woche aus der Türkei zur griechischen Insel Lesbos gelangt. Es handelt sich um die grösste Anzahl, die seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspakts im Jahr 2016 an einem einzelnen Tag in Griechenland angekommen ist. Alle Migranten wurden ins bereits überfüllte Registrierungslager von Moria auf Lesbos gebracht. Wegen der unhaltbaren Zustände trat der Camp-Leiter am Mittwoch zurück.

Der im März 2016 geschlossene Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug nehmen EU-Staaten der Türkei schutzbedürftige Flüchtlinge aus Syrien ab und finanzieren Hilfen für in der Türkei lebende Flüchtlinge.

Mindestens 500 Migranten sind am Donnerstag vergangener Woche aus der Türkei zur griechischen Insel Lesbos gelangt. Es handelt sich um die grösste Anzahl, die seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspakts im Jahr 2016 an einem einzelnen Tag in Griechenland angekommen ist. Alle Migranten wurden ins bereits überfüllte Registrierungslager von Moria auf Lesbos gebracht. Wegen der unhaltbaren Zustände trat der Camp-Leiter am Mittwoch zurück.

Der im März 2016 geschlossene Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug nehmen EU-Staaten der Türkei schutzbedürftige Flüchtlinge aus Syrien ab und finanzieren Hilfen für in der Türkei lebende Flüchtlinge.

Wie sieht der Alltag im Lager aus?
Ein 16-Quadratmeter-Zelt unterteilen wir teilweise in vier Bereiche für vier Familien – und die können schnell mal aus je vier bis fünf Personen bestehen. Die Menschen im Lager müssen mehrmals am Tag und sehr lange für alles anstehen: für Essen, Waschen, das Klo. Und: Alle müffeln.

Wie sind die hygienischen Verhältnisse?
Wir können Moria nicht sauber halten. Es riecht schlimm. Die Kanalisation ist nicht richtig ans Netz angeschlossen. Abwasser läuft in Rinnsalen offen durchs Camp, teilweise unter Zelten und Containern durch.

Was sind die grössten Herausforderungen?
Im Moment: jeden unterzubringen. Und was zu meinem Bereich gehört: Alle so zu versorgen, dass sie ein trockenes Kleidungspaket und eine Decke bekommen.

Gibt es viel Gewalt?
Allein in den letzten beiden Wochen hat ein unbegleiteter Minderjähriger einen Kollegen erstochen, zwei weitere Teenager wurden schwer verletzt. Und rund 300 dieser Jungs haben randaliert, bis die Polizei mit Tränengas dazwischenging. Dass so viele Menschen so eng zusammengepfercht sind, kann ja nicht gut gehen.

Wie lange leben Menschen durchschnittlich im Camp?
Manche sind jahrelang da, besonders allein reisende Männer aus afrikanischen Ländern. Am schnellsten verlegt werden minderjährige Buben. In der Regel kommen sie nach drei bis sechs Monaten aufs Festland. Dort warten sie dann auf ihre Anhörung. Es gibt mittlerweile Menschen, die ihren Interviewtermin erst für 2021 bekommen haben.

Seit Juni gibt es eine neue Regierung in Griechenland. Spürt man das?
Sie hat zumindest angekündigt, die Verfahren zu beschleunigen. Das wäre im Interesse aller.

Wie viele Flüchtlinge kommen täglich auf Lesbos an?
Kürzlich waren es mal mehr als 600. In der Regel sammelt die Küstenwache die Leute ein, nur ganz wenige Schiffe kommen von selbst durch.

Was halten Sie von privaten Rettungsschiffen?
Die Leute wollen einfach weg – egal, ob sie gerettet werden oder nicht. Wenn die Regierungen keine Boote schicken, dann kommen sie trotzdem. Und ertrinken halt.

Wer ist schuld am Versagen, an der Situation?
Wir alle. Die Griechen baden es auch nur für uns aus. Das Gleiche gilt für die Italiener, für deren Ärger ich viel Verständnis habe.

Wie ginge es besser?
Die EU muss den Griechen unter die Arme greifen. Auf dem Festland Camps errichten, die menschenwürdiger sind.

Am Mittwoch trat Camp-Leiter Yannis Balpakakis zurück. Er sei «müde», sagte er.
Ich war nicht überrascht. Es ist ja seit Jahren schlimm hier. Und immer, wenn wir denken, jetzt haben wir es im Griff, wird es wieder schlimmer.

Sie bleiben?
Ja, jetzt erst recht. Ich bin am Anfang erschrocken, wie schlimm und düster alles ist. Mittlerweile sehe ich auch schöne Dinge: Gastfreundschaft, Schönheit, die ich nicht erwartet habe. Ein freudestrahlendes Kind, das sein erstes Kuscheltier seit der Flucht bekommt. Das macht es erträglich.

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