Ach, Israel. Man muss es mit einem Seufzer sagen, sei es mit einem schwermütigen oder einem verträumten. Heute vor fünf Jahren kam ich hier an. Ein Ort, so sehr geliebt von so vielen. So sehr gehasst von so vielen. Und genauso vielen ist er egal. Ich dachte, als Expertin hergekommen zu sein und stellte schleichend fest, dass ich viel weniger wusste, als ich dachte. Dass ich genauso war wie jeder, der glaubt, Experte zu sein.
Vor fünf Jahren wollte ich mich der Herausforderung stellen, in Israel ein Jahr lang journalistisch tätig zu sein. Zum Glück bin ich nach einem Jahr nicht zurückgekehrt, sonst wäre ich fast genauso ahnungslos gegangen, wie ich gekommen war.
Man denkt an Israel, man denkt an Juden, an Palästinenser. Man sieht sofort zwei Flaggen vor seinem geistigen Auge und spürt etwas. Es ist wie ein Becher mit zwei Eissorten: Eine Kugel tut es einem immer mehr an als die andere.
Stereotypen allenthalben
Da sind die Siedler. Diese Friedensbrecher, die jedes Potenzial für Frieden im Keim ersticken. Da sind diese Orthodoxen, die in ihrer Ignoranz ihre Ideologien durchboxen. Da sind die Palästinenser, die nicht davor zurückschrecken, sich in die Luft zu sprengen. Und irgendwo dazwischen gibt es noch Lückenfüller. Intuitiv und ungerechterweise kategorisiert fast jeder so. Zu Unrecht. Wer hat sie schon getroffen? Wer hat schon wirklich versucht, diese Stereotypen zu verstehen?
Im Winter 2014 überschattete eine Welle von Messerstechereien gegen Juden die Stimmung im Land. Während der Zeit war ich mit einer jüdischen Freundin in Jerusalem. Sie wollte nachts zur Klagemauer. Der arabische Markt war zu, nur ein Laden hatte geöffnet. Wir waren allein und der palästinensische Verkäufer fing an, mit uns auf Englisch zu reden. Dann fragte er sie, ob sie Israelin sei. Sie fühlte sich unbehaglich, antwortete mit Ja. Er zögerte eine Sekunde und fiel ihr dann um den Hals: «Ich habe so lange nicht mehr mit einem Juden geredet, obwohl ich euch täglich sehe. Dieses stille aneinander Vorbeileben macht mich krank.»
Wer meint, er müsse mit einem Israeli oder einem Palästinenser über diesen scheinbar endlosen Konflikt reden, um dann alles verstehen zu können, hat es sich zu leicht gemacht. Allein die Tatsache, dass diese Menschen hier leben, macht sie nicht zu Experten in Sachen ihres Landes. In Israel herrscht eine absurde Taubheit gegenüber dem anderen. Jeder Jude kennt mindestens einen Araber. Jeder Araber mindestens einen Juden. Daraus machen aber wenige etwas. Den anderen einmal fragen, wie er sich fühlt, ohne eine Diskussion entfachten zu lassen, lässt kaum einer zu. Einfach zuhören und lernen ... Man sieht sich, ohne sich zu hören.
Alle sind sie traumatisiert
Jeder lebt hier mit seinem Trauma. Trauma. Das Wort der Worte. Die einen haben es vom Holocaust. Die anderen von der Vertreibung aus Marokko, dem Jemen, Iran oder dem Irak. Wieder andere durch die Vertreibung aus ihrem Haus und Grund. Vertriebene im eigenen Land. Alle sind sie Vertriebene auf ihre Art und alle sind sie hier. Die Erste Intifada, die Zweite und all die Kriege, die nachhaltig Paranoia geschaffen haben. Als Kind Explosionen zu sehen oder zu hören, egal, von welcher Seite aus, sind Wunden, die nur schwer heilen. Wie kann etwas Gesundes auf krankem Boden wachsen? Und sind wir von aussen überhaupt in der Lage, Traumata nach ihrer Intensität zu kategorisieren? Was wissen wir schon?
Frühling 2015. Ich stehe mit einem orthodoxen Rabbiner in der Westbank auf einem Olivenfeld. Er nähert sich den palästinensischen Bauern. Erst letzte Woche haben Siedler hier Bäume der Palästinenser angezündet. Der Rabbiner kommt in Gefolgschaft, umarmt die Bauern. «Wir sind hier, um die Bauern vor den Randalierern zu schützen. Das ist unsere Aufgabe», sagt er und setzt sich für vier Stunden zu ihnen.
Wir machen es uns leicht, über israelische Wähler zu urteilen. Wer rechts wählt, will keinen Frieden, lautet unsere logische Schlussfolgerung. Dabei lassen wir das erhöhte Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung ausser Acht. Es ist leicht zu urteilen, wenn man nicht hier lebt: Wie hoch wäre das Sicherheitsrisiko, das wir selbst für unsere Kinder eingehen würden, würden wir hier an diesem Ort leben? Wer hier lebt, bleibt hier. Wohin soll er schon gehen. Und bevor man selbst Abstriche machen muss, sollen es die anderen tun. Und wenn einem die anderen nicht nur Angst machen, sondern auch fremd sind, entscheidet man noch schärfer. Dasselbe gilt für beide Seiten: Wer wenig zu verlieren hat und für ein besseres Leben für seine Kinder kämpft, greift zu Mitteln, die wir nicht nachvollziehen können.
Kämpfen für Palästina – trotz allem
Es ist Sommer 2013. Ich habe meinen ersten Arabischunterricht begonnen und sitze mit meiner Lehrerin auf dem bekannten Rothschild Boulevard in Tel Aviv. Sie ist nicht religiös und betrinkt sich am Wochenende gern. Ich frage sie: «Willst du einen Staat Palästina?» – «Natürlich!» – «Würdest du dort leben wollen?» – «Natürlich nicht. Das wäre ein korrupter Ort ohne Freiheit.» Warum sie in diesem Falle dafür kämpfe, frage ich. «Leben etwa alle Juden in Israel? Nein. Aber es ist schön, zu wissen, dass die Möglichkeit besteht, im Land deines eigenen Volkes leben zu können.»
Ist dieses Israel ein ganz anderer Ort, als man ihn von aussen wahrnimmt? Nein. Aber was man von aussen sieht, ist ein sehr eingeschränkter Radius. Was auch immer man in Israel sucht, findet man. Hier gibt es alles. Arabische Dragqueens, ultra-orthodoxe Vegan-Aktivisten, die antijüdischen Juden, die antiarabischen Araber. Und natürlich gibt es auch sie: die antiarabischen Siedler oder die fanatischen Orthodoxen. Auch die von Rache getriebenen arabischen Israelis und Palästinenser.
Ich wurde einst angefragt, bei einem Dokumentarfilm mit dem Titel «Israel, wer bist du?» mitzuarbeiten. «Wie viel Sendezeit habt ihr?» – «Eine Stunde.» Ich lachte und winkte ab. Der Film kam nie zustande.
Ich befinde mich hier im Nahen Osten und bin dennoch im Westen. Es ist vielleicht der beste Nahe Osten und gleichzeitig ein wirklich schlechter Westen. Ich habe viel westliche Arroganz ablegen müssen, um lernen zu können. Und ich werde vielleicht nie alles verstehen können: diese unendliche Liebe und diesen unendlichen Hass. Diese Ratlosigkeit auf allen Seiten, die manchmal zur Verzweiflung wird. Nur eines habe ich mit Bestimmtheit gelernt: sich mit Urteilen zurückzuhalten. Lieber einmal mehr zuhören, als einmal zu oft zu reden.