Diplomaten ganz undiplomatisch: Italiens Botschaft in Stockholm wehrt sich gegen Behauptungen des schwedischen Chef-Epidemiologen. Und zwar mit deutlichen Worten. «Leider sieht sich die Botschaft gezwungen, erneut die falschen Behauptungen zu bestreiten», heisst es in einer am Mittwoch veröffentlichten Pressemitteilung der Italiener in Bezug auf Anders Tegnell (64).
Der umstrittene Chef-Epidemiologe hatte kurz zuvor in der schwedischen Boulevardzeitung «Aftonbladet» indirekt über Italien gelästert. Tegnell ist der Architekt der schwedischen Anti-Lockdown-Strategie, die noch immer zu hohen Infektions- und Todesfällen führt.
In dem Interview, über das sich die Italiener empören, sprach Tegnell über den Stand der schwedischen Altenpflege während der Corona-Krise – und verglich die schwedische Gesellschaft mit der italienischen. «Ich hatte gedacht, dass wir in einer modernen und reichen Gesellschaft wie Schweden in der Lage sein sollten, unsere älteren Menschen zu schützen. Es sollte nicht so sein, wie es in China oder vielleicht sogar in Italien aussah, wo sie weniger Ressourcen dafür haben», sagte der Schwede.
Italien hatte mehr Intensivbetten als Schweden
Ein fieser Seitenhieb auf das von Corona schwer getroffene Italien. Und eine Behauptung, welche die Italiener nicht auf sich sitzenlassen wollen. «Nicht nur mit allgemeinen Einwänden, sondern unter Bezugnahme auf überprüfte Fakten und Statistiken», heisst es in der Mitteilung. Die WHO sehe das italienische Gesundheitssystem in Bezug auf Effizienz und Funktionalität nämlich weltweit an zweiter Stelle – Schweden belege in derselben Klassifizierung nur Platz 23. Auch bei der Lebenserwartung und der Anzahl der Krankenhausplätze pro tausend Einwohner läge in Italien laut Zahlen der WHO und OECD deutlich höher.
Ein deutlicher Unterschied zeige sich zudem in der Intensivpflege. Die Anzahl der Intensivbetten habe zu Beginn der Corona-Krise in Italien 5100 betragen – und sei etwa auf das Doppelte erhöht worden. «In Schweden war die Anzahl der Intensivbetten im Verhältnis zur Bevölkerung halb so hoch», schreiben die Italiener.
Auch Tegnells Vorgängerin kritisiert den Chef-Epidemiologen
Es ist bereits die zweite öffentliche und heftige Kritik an dem schwedischen Chef-Epidemiologen innerhalb weniger Tage. Tegnells Vorgängerin Annika Linde findet, Schweden habe den Lockdown verschlafen. Dem britischen «Observer» sagte die ehemalige Staatsepidemiologin: «Ich denke, wir hätten mehr Zeit zur Vorbereitung benötigt. Hätten wir früh einen Lockdown gemacht, hätten wir in dieser Zeit sicherstellen können, dass wir das Notwendige zum Schutz der Schwachen tun können.»
Gegenüber dem «Aftonbladet» bekräftigte sie ihre Kritik: «Ich hätte diese Strategie nicht gewählt. Die bisherige Entwicklung ist sehr traurig und wir haben das Ende noch nicht gesehen.» Während die erste Welle in vielen Ländern als überstanden gilt, verzeichnete Schweden zuletzt europaweit die meisten Corona-Toten pro Kopf. Insgesamt sind es in dem 10,23-Millionen-Einwohner-Land nun 4266 Tote – fast dreimal so viele wie in der bevölkerungsmässig ähnlich grossen Schweiz.
Doch Tegnell will sich vom Sonderweg nicht abbringen lassen. In einem «BBC»-Podcast verteidigte er sich in der vergangenen Woche: «Die anderen Länder hatten noch gar keine Welle!» Die Ausbreitung in schwedischen Altenheimen – wo lange kein Besuchsverbot galt – sei einfach «unglücklich». Alles in allem ist Tegnell der Überzeugung, dass seine Strategie funktioniere.
Schwedens Todeszahlen könnten noch höher sein
Das sehen viele Experten anders. Schweden hätte sogar noch höhere Infektions- und Todeszahlen, wenn es nicht von den harten Corona-Massnahmen anderer Länder profitiert hätte. Als «Enklave» zwischen lauter früh abgeschotteten Länder habe die Pandemie die Schweden weniger hart getroffen, als das anderswo vielleicht der Fall gewesen wäre. Zudem konnte Schweden von den Erfahrungen anderer Länder profitieren und früh ähnliche Empfehlungen aussprechen.
Ein Zeitvorsprung, den die von Tegnell kritisierten Italiener etwa nicht hatten. Die Südeuropäer waren als erstes Corona-Epizentrum in Europa quasi auf sich allein gestellt. «Italien musste sich zunächst mit der Covid-19-Krise ohne bestehenden Bezugsrahmen und mit mangelnder Solidarität anderer Länder auseinandersetzen», schreibt die Botschaft. Das Gesundheitssystem sei gezwungen gewesen, sich einer überwältigenden Herausforderung zu stellen und habe die Situation mit grossen Opfern bewältigt, «in einigen Fällen sogar von Ärzten und Krankenschwestern, die ihr eigenes Leben in Gefahr brachten». Jetzt könne das Land langsam in eine neue Richtung blicken – auf den Intensivstationen würden aktuell weniger Patienten betreut als zu Beginn der Epidemie.
Italien fordert Solidarität von Tegnell
«Es war viel Trauer, zu viel Leid und das ganze Land hat getrauert», heisst es in der Mitteilung. «Aber wir dürfen nicht die unbezahlbare Hingabe und Gewissenhaftigkeit vergessen, die unsere Ärzte, Krankenschwestern und das gesamte Gesundheitspersonal geprägt hat.» Der Staat und die lokalen Behörden sowie die gesamte Bevölkerung hätten sich im Kampf gegen die Pandemie zusammengeschlossen. «Heute wie gestern sind wir stolz darauf, italienische Staatsbürger zu sein und konnten in schwierigen und epochalen Zeiten das Wissen nutzen und den Mut bewahren, ohne die Menschlichkeit zu vergessen.»
Die Mitteilung schliesst mit einer klaren Botschaft in Richtung Tegnell: «Jeder ausserhalb Italiens sollte unserem Land und unserem Volk nur Lob und Solidarität aussprechen.» Nicht zuletzt, weil Italien im Vergleich zu anderen Ländern – einschliesslich Schweden – wegen eines «grausamen Schicksals» keine Zeit auf seiner Seite hatte.