Gastautor Michael Schindhelm über das Tauziehen um die Flüchtlinge
Deutschland im Formtief

Autor und Merkel-Freund Mi­chael Schindhelm* war diese Woche in Dresden. Er hat an einer Pegida-Demonstration wenig Erbauliches gesehen, hat aber noch Hoffnung.
Publiziert: 01.07.2018 um 17:21 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2018 um 15:07 Uhr
Michael Schindhelm*

Montags in Dresden (D). Sie sind ein mächtiges Häuflein. Hundertfünfzig Menschen, viele von ihnen sechzig Jahre alt oder älter, versammeln sich rund um die Frauenkirche, das wiederaufgebaute Mahnmal der Zerstörung der Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs durch angloamerikanische Bomber. Jemand ruft: «Schluss mit der Lügenpresse!»

Ein Pappkarton wird hochgehalten mit der Aufschrift: «Merkel muss weg!» Die patrouillierenden Polizisten zeigen mehr Interesse an den Bildschirmen vor den Restaurants, auf denen gerade ein Spiel der Fussball-Weltmeisterschaft übertragen wird.

Er redet, als ob er alleine die Wahrheit kennt

Nachdem das Abendgeläut der Kirche verklungen ist, verkündet ein Mann mittleren Alters mit ­Nickelbrille und schwarzem Trainingsanzug, man wehre sich gegen die Manipulation der politischen Wirklichkeit. Der Mann spricht in einem freundlichen Sächsisch und wirkt entspannt, so, als sei das, was er zu sagen habe, ohnehin allgemein bekannt. Dass Deutschland von Flüchtlingen überrannt werde und man sich nicht den Mund verbieten lasse.

Ich treffe einen chinesischen Komponisten, der seit über dreissig Jahren im Lande lebt. Auf der Fahrt hierher habe er in der Zeitung zwei Meldungen gelesen: In der Innenstadt sei am Wochenende einer Asia­tin mit einer leeren Bierflasche auf den Kopf geschlagen worden. Und dass das Flüchtlingsschiff Lifeline, das mit über zweihundert Menschen über das Mittelmeer irre und keine Aufnahme finde, von ­einer Dresdner Hilfsorganisation ­finanziert werde.

Jeder rechnet mit einem Quoten-Absturz

Am Abend feiert eine illustre Gesellschaft die lokale Medienwelt und sich selbst. Die ersten Umfragen zur Landtagswahl im nächsten Frühjahr deuten darauf hin, dass die AfD eventuell den neuen Ministerpräsidenten stellt. Der aktuelle, der CDU angehörende Premier ist auch da und gibt sich nach Kräften Mühe, keine Nervosität zu erkennen zu geben. Dabei steht es schlecht um die Partei und den politischen Konsens in Berlin. Die CSU will Merkel nicht mehr in der Asylpolitik folgen und Flüchtlinge, die in einem anderen Land Europas bereits registriert sind, nicht ins Land lassen.

Da verliert Deutschland gegen Korea und scheidet seit vielen Jahrzehnten zum ersten Mal in der Vorrunde aus. Die Blamage sitzt so tief, dass die Bildschirme vor den Restaurants an der Frauenkirche zu flimmern beginnen. In den Zeitungs- und Medienredaktionen wird nun, da das Unvorstellbare passiert ist, hastig an einem Ersatzprogramm gearbeitet, denn jeder rechnet mit einem Absturz der Quoten.

Inzwischen stürzt auch die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer Regierung. Jeder in der Grossen Koalition verliert Prozente, am meisten die SPD, die am Asylstreit gar nicht beteiligt ist. Der Stern der AfD steigt nicht überraschend weiter. Am Freitag erklärt Merkel vor dem Bundestag, der am selben Tag beginnende EU-Gipfel werde über das Schicksal der EU entscheiden. Jeder weiss, was sie nicht sagt: Dass er auch über ihr eigenes Schicksal als Kanzlerin und CDU-Chefin entscheidet.

Sie hält das Ultimatum ein

Doch es kommt wieder das Unerwartete: Die EU-Regierungschefs einigen sich tatsächlich auf eine gemeinsame, wenn auch verschärfte Asylpolitik. Merkel kann getrost nach Hause reisen. Die Schwesterpartei in Bayern mit ihrem Chef Seehofer hatte ihr ein Ultimatum gesetzt, das sie einhalten wird. Zum Wochenende wird sie ein Angebot zum Asylstreit machen, den die CSU nicht abschlagen kann.

Als die Kanzlerin vor zwölf Jahren ihre erste Rede zur Deutschen Einheit hielt, erinnerte sie eingangs daran, dass ich ihr noch in der alten DDR ein Buch mit Widmung geschenkt hatte. Die Widmung lautete: Geh ins Offene. Nichts Schöneres hätte man ihr sagen können, als die Mauer gefallen war. Allein in den letzten Wochen ist Merkel angeblich nahezu sechzigtausend Kilometer gereist, um ihre politische Sache zu vertreten. Von Washington bis Peking, von Brüssel bis Dresden. Deutschland ist bei der WM ausgeschieden, aber noch nicht verloren.

*Michael Schindhelm (57) arbeitete zu DDR-Zeiten als Chemiker im gleichen Büro wie Angela Merkel. Heute ist er Schriftsteller, Filmemacher und Kulturberater.

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