Prügelnde Polizisten, Feuerwerkskörper, Tränengas. Seit Dienstag erschüttern heftige Unruhen Serbiens Hauptstadt Belgrad und weitere Städte. Bilder und Videos zeigen chaotische Szenen. So auch wieder in der Nacht auf Freitag: Trotz einem neuen Versammlungsverbot für mehr als zehn Person, das Präsident Aleksandar Vucic (50) wenige Stunden zuvor erlassen hat, versammelten sich wieder Tausende Menschen in Belgrad. Sie hielten den Polizisten Schilder mit der Aufschrift «Nehmt Randalierer fest, schlagt nicht das Volk» entgegen.
Die Serben protestieren gegen ihre Regierung. Der Auslöser: neue Corona-Massnahmen. Die hat Präsident Vucic angekündigt, nachdem die Fallzahlen wieder massiv gestiegen waren.
Doch die Serben haben keine Lust mehr auf einen strikten Lockdown, wie er bereits von Mitte März bis Anfang Mai galt: mit strikter Ausgangssperre und drakonischen Strafen für Verstösse gegen Bewegungsverbote und Quarantäne-Auflagen. Die Strategie war zwar erfolgreich – führte aber auch zu Übermut. Besonders im Hinblick auf die Parlamentswahlen am 21. Juni soll Vucic nicht nur zu früh gelockert, sondern auch die Corona-Zahlen massiv geschönt haben. Das Ergebnis: eine zweite Welle mit mehr als 300 Neuinfektionen pro Tag.
Wer die Unruhestifter sind, ist noch unklar
Nach der ersten Protestnacht ruderte Vucic eiligst zurück. Eine neue Ausgangssperre ist vom Tisch. Doch den Geist kriegt er nicht mehr in die Flasche. Seit Mittwoch gehen auch in Novi Sad, Nis und Kragujevac die Menschen auf die Strasse. Denn Vucics Corona-Lügen sind nur die Zündschnur für eine neue Welle der seit Herbst 2018 immer wieder aufflammenden Anti-Regierungs-Proteste. Fotos von den frühen Abendstunden in dieser Woche zeigen jeweils Junge und Alte bei friedlichen Demos.
Sobald es dunkel wird, kippt die Stimmung. Am Dienstag war der Auslöser eine kleine gewaltbereite Gruppe, die ins serbische Parlament eindrang. Darunter der rechtsextreme Ex-Abgeordnete Srdjan Nogo (39). Auch am Mittwoch suchten Militante die Auseinandersetzung mit der Polizei, warfen Feuerwerkskörper und Steine. Wer genau die Unruhestifter sind, ist noch unklar. «Es ist selbst für uns vor Ort schwer zu verstehen», sagt «Blic»-Journalist Ivan Jovanovic (38) zu BLICK.
Die Beamten setzen Knüppel und Tränengas ein, das bis in die Morgenstunden über der Stadt hängt. Innenminister Nebojsa Stefanovic (43) lobte die Sicherheitskräfte am Mittwochabend für ihre «Ruhe» – die Polizisten hätten sich nur «verteidigt», als sie selbst bedroht worden seien.
Proteste und Polizeigewalt versauen Vucics Brüssel-Besuch
Videos und Fotos zeigen ein anderes Bild. Etwa, wie Polizisten drei friedlich auf einer Bank sitzende Männer attackieren. Oder wie Beamte auf einen wehrlosen Mann vor dem Palata Albania in Belgrad einschlagen, ihn prügeln und treten, als er längst am Boden liegt. Aus Novi Sad gibt es ein Video, in dem Polizisten einen Jugendlichen offenbar grundlos von seinem Velo zerren und schlagen.
Die Regierung rechtfertigt die Polizeigewalt und versucht, die Proteste als «Putschversuch» und als Ergebnis der angeblichen Wühlarbeit nicht näher bezeichneter ausländischer Mächte darzustellen. Doch Brüssel, wo ab heute der Serbien-Kosovo-Dialog fortgesetzt wird, ist besorgt. Die EU-Kommission rief angesichts der Unruhen zur Deeskalation auf. Die Proteste gegen Vucic werfen nicht nur einen Schatten auf die anstehenden Gespräche – sondern auch auf die mögliche EU-Mitgliedschaft von Beitrittskandidat Serbien.