Herr Todenhöfer, vermeintlich aus dem Nichts erobern die Taliban eine Grossstadt. Jetzt heisst es, Afghanistan habe Kundus wieder unter seine Kontrolle gebracht. Wer hat die Hand oben?
Jürgen Todenhöfer: Es geht ständig hin und her. Die Taliban sagen, sie kontrollierten 60 Prozent des Gebiets– und Regierungsvertreter in Kabul sagen, dass sie die Stadt beherrschen. Aber das ist irrelevant. Das Faktum, dass die Taliban eine Stadt wie Kundus einfach überrennen konnten, zeigt ihre ungebrochene Stärke.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass die Taliban in Kundus einfallen?
Das ist eine ganz abenteuerliche Geschichte. Bereits vor vier Wochen haben mehrere hundert afghanische und pakistanische Taliban die Stadt infiltriert. Sie haben bei Freunden, Bekannten und anderen Unterstützern gewohnt. Möglich machten das einige Dorfmilizen, die allerdings von der Regierung bezahlt werden – die haben die Taliban reingelassen. Als die Taliban den entsprechenden Befehl bekommen haben, gaben sie sich zu erkennen und haben die Stadt übernommen. Ein raffinierter, listiger Plan.
Die Taliban waren also bereits seit einem Monat in der Stadt – und keiner von der Regierung soll etwas gewusst haben?
Natürlich wirft das Parlament der Kabul-Regierung totales Versagen vor. Der Gouverneur von Kundus hat sich interessanterweise kurz vor Ausbruch der Kämpfe nach Tadschikistan abgesetzt. Zudem haben die lokalen Dorfräte Verdacht geschöpft und bereits vor Wochen die Regierung gewarnt. Und der Chef des afghanischen Geheimdienstes hat sich geweigert, in dieser Sache öffentlich im Parlament auszusagen.
Wie stark sind die Taliban?
Die Gefahr, dass die Taliban es erneut schaffen, das ganze Land zu übernehmen, ist real. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass das nicht nur afghanische, sondern auch pakistanische Taliban sind. Die pakistanischen Taliban sind die brutalsten. Sie sind äusserst kriminell.
Es scheint, dass kaum sind die Nato-Truppen abgezogen, die Situation sofort wieder aus dem Ruder läuft. War es ein Fehler, die Soldaten abzuziehen?
Es war ein Fehler, dass man nicht schon vor 14 Jahren mit den Taliban verhandelt hatte. Damals waren sie noch schwach.
Sie raten zu Verhandlungen mit Terroristen?
Afghanistan wird politisch und demokratisch nie so funktionieren wie Deutschland oder die Schweiz, auch wenn wir uns das wünschen würden. Solange nicht eine Regierung gebildet wird, in der die Taliban vertreten sind, wird es immer Bürgerkrieg geben. Das haben die letzten 14 Jahre deutlich gezeigt. Die afghanische Regierung steht im Kontakt zu den Taliban, allerdings unterstützt der Westen das nicht wirklich. Militärisch haben wir im Land nichts mehr verloren, wir müssen die Finger davon lassen.
US-Soldaten oder die Bundeswehr sind in Afghanistan, um die Landesarmee strategisch zu beraten. Das scheint doch nötig – haben die jüngsten Ereignisse nicht gezeigt, wie schwach das Militär ist?
Der Hauptgrund, warum die USA und die Verbündeten noch in Afghanistan sind, ist nicht das Training der afghanischen Soldaten. Amerika baut riesige Luftwaffenstützpunkte in Bagram, Dschalalabad und Kandahar. Von dort können sie jederzeit im gesamten Mittleren Osten zuschlagen. Diesen terrestrischen Flugzeugträger akzeptieren die Taliban nicht. Die Taliban und ihr uralter, oft vor-islamischer Wertekodex gehören nun mal zu Afghanistan. Das versteht der Westen nicht. Die Taliban sind eine nationale Widerstandsbewegung, die leider auch mit terroristischen Mitteln kämpft, aber keine reine Terror-Organisation wie die international ausgerichtete Al-Kaida. Die afghanischen Taliban haben übrigens ihr Programm inzwischen stark geändert. Ich habe mit einem 31-jährigen Talibanführer gesprochen, der schickt seine Töchter längst zur Schule.
Das klingt, als würden sie die Taliban verharmlosen.
Keineswegs. Ich bin kein Freund der Taliban. Ich bin ein Freund des afghanischen Volkes. Aber die Taliban sind ein wichtiger Teil Afghanistans und Verhandlungen sind möglich. Ausländische Truppen helfen nicht weiter. Wenn man es in 14 Jahren nicht geschafft hat, mit Bomben den Krieg zu beenden, dann schafft man es auch in weiteren 5, 10 oder 20 Jahren nicht. Für die Kinder, die im Krieg ums Leben kommen, spielt es keine Rolle, ob sie von Taliban oder von US-Bomben getötet werden. Die grosse Niederlage der Nato in Afghanistan belegt übrigens , dass es auch in Syrien und im Irak nicht möglich sein wird, den IS mit Bomben zu schlagen. Das ist, als würde man mit Panzern und Raketen auf Fuchsjagd gehen.
Verschiedenste politische, weltanschauliche und militärische Interessen prallen aufeinander – bleibt ein friedliches Afghanistan eine Illusion?
Ja, solange die Verhandlungsführer der Taliban in den USA auf Terror-Suchlisten auftauchen und solange keine Amnestie erlassen wird. Wenn man Frieden schliessen will, muss man immer Kröten schlucken. Und ernsthaft verhandeln.