Herr Reinkowski, Sie verfolgen die Entwicklungen in der Türkei seit Jahren intensiv. Haben Sie mit einem Putschversuch, wie er heute Nacht das Land erschütterte, gerechnet?
Nein, ich war sehr überrascht. Die AKP-Regierung hat dem Militär in den 2000er Jahren sehr stark die Krallen geschnitten. Zahlreiche Militärs wurden verurteilt, die gesamten Sicherheitsdienste befinden sich heute unter der Kontrolle der Regierungspartei. Einen Putsch beziehungsweise der Versuch eines solchen habe ich – zumindest zu diesem Zeitpunkt – deshalb nicht für möglich gehalten.
Weshalb kam es wohl dennoch dazu?
Das Militär hat ein grosses Problem damit, dass die Position von Erdogan immer stärker wird. Alte Machtfaktoren wie die Armee werden immer mehr an den Rand gedrängt. Vielleicht dachte man, dass die Möglichkeit eines Putschversuchs nur noch jetzt besteht, weil Erdogan in ein, zwei Jahren so mächtig sein wird, dass das dann nicht mehr möglich ist.
Doch der Putschversuch wurde nicht vom gesamten Militär getragen. Warum?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist sicher die intensive Überwachung des Militärs durch die Regierung. Ein zu grosser Mitwisserkreis wäre zu problematisch gewesen. Man konnte nur im kleinen Kreis anfangen und dann hoffen, dass das gesamte Militär mitmacht – was schliesslich allerdings nicht funktionierte. Die Armee ist sehr rasch in zwei Lager gebrochen. Man kann darin eine stärkere demokratische Selbstverpflichtung – zumindest von Teilen des Militärs – sehen. Man könnte aber auch sagen, dass der der Korpsgeist des Militärs nicht mehr so intakt ist wie in früheren Jahrzehnten.
Präsident Erdogan beschuldigt die Bewegung um den in den USA lebenden Prediger Fetullah Gülen, hinter dem Umsturzversuch zu stehen. Dieser dementiert allerdings jegliche Verwicklung vehement. Wem glauben Sie?
Eine Beteiligung der Gülen-Bewegung halte ich für eher unwahrscheinlich. Denn wie gesagt: Je grösser der Kreis der Mitwissenden, desto grösser auch die Gefahr, dass die Pläne auffliegen.
Und was halten Sie von Spekulationen, bei dem Umsturzversuch könnte es sich um eine Inszenierung Erdogans handeln?
Dass der Putschversuch komplett inszeniert war, halte ich für äusserst unwahrscheinlich. Durchaus möglich ist hingegen, dass die Regierung schon ein oder zwei Tage im Voraus von den Plänen der Umstürzler wusste und den Putschversuch bewusst ins Leere laufen liess. Denn nichts kommt Erdogan derzeit gelegener als ein gescheiterter Putsch. Er ist ein grosses Geschenk für ihn und seine Anhänger.
Inwiefern?
Der Rückhalt Erdogans in der Bevölkerung ist mit dem Putschversuch klar grösser geworden. Im Gegensatz zu früher ist man nicht von Umstürzlern überrollt worden, sondern hat dem Putsch erfolgreich getrotzt. Das weckt ein Gefühl der Befreiung, der Souveränität. Die Regierung wird nun ganz bestimmt Vergleiche mit Ägypten anstellen: Während die Mursi-Regierung weggefegt wurde, konnte das türkische Volk und die Regierung widerstehen. Ein Erfolg für die türkische demokratische Kultur.
Eine Kultur, auf die es Erdogan doch genau abgesehen hat.
Genau das wird die Nicht-Erdogan-Anhänger ärgern: Der Präsident wird den Putschversuch zum Anlass nehmen, um seine undemokratische Agenda noch stärker voranzubringen. Das Militär wird noch mehr unter die Kontrolle seines Machtkreises gelangen, jede Art von Opposition endgültig auszuschalten versucht.
Besteht die Gefahr eines weiteren Putsches?
Das halte ich für so gut wie ausgeschlossen. Die Strippenzieher wurden festgenommen und es wird keine Möglichkeit geben, auf Nebenwegen nochmals eine Vereinbarung zum Putsch zu treffen. Vielmehr wird es zu einer Säuberung des Miltärs kommen – womit das Projekt Erdogans, eine Präsidialrepublik durchzusetzen, weiter vorangetrieben wird. Und so ist es aus meiner Sicht zwar ein demokratischer Erfolg, dass der Putsch niedergeschlagen werden konnte – doch leider fällt das Glück der falschen Person in den Schoss.