Siegesgewiss. Das waren die Demokraten vor der US-Wahl. Viel deutete auf einen Erdrutschsieg für Joe Biden (77) hin: Nach den chaotischen Trump-Jahren lag der demokratische Herausforderer landesweit rund zehn Prozentpunkte vorne – und selbst in tiefroten Staaten schien das Rennen plötzlich offen.
In der Wahlnacht dann die Ernüchterung: Donald Trump (74) holte den Swing State Florida – wo seine Golfresidenz Mar-a-Lago liegt – , ebenso blieb Texas in republikanischer Hand. Im Laufe des Mittwochs wurde klar: Der Kampf um die Präsidentschaft bleibt eng und den Senat bekommen die Demokraten nicht gedreht. Ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus können die Demokraten voraussichtlich nur mit Verlusten verteidigen.
Selbst wenn Joe Biden das Präsidentenamt am Ende für sich entscheidet, braucht er für sein Kabinett und wichtige Gesetzesentwürfe den weiterhin republikanisch kontrollierten Senat – und hat im Repräsentantenhaus weniger politisches Gewicht. Im schlimmsten Fall bedeutet das bei wichtigen Reformen weitere zwei Jahre Stillstand, bis es bei den Halbzeitwahlen 2022 eine Neuordnung des Kräfteverhältnisses geben kann.
Warum kam die «blaue Welle» der Demokraten nicht? BLICK zählt die Gründe auf.
1. Latinos in Florida unterschätzt
Florida ist der erste Swing State, der Trump zufiel – obwohl die Prognosen bis zuletzt Biden vorne gesehen hatten. Biden hat hier besonders im Latino-dominierten Teil rund um Miami im Vergleich zu Hillary Clinton an Stimmen eingebüsst. Die Republikaner brachten im gleichen Gebiet ausserdem zwei demokratische Abgeordnete um die Wiederwahl. Eine mögliche Erklärung: Donald Trumps gezeichnetes Bild der «sozialistischen» Demokraten hat bei Amerikanern mit kubanischen Wurzeln besonders Wirkung gezeigt. Wichtig zu wissen: Für Trump war der Sieg in Florida entscheidend. Biden kann auch ohne Florida gewinnen.
2. Arbeiter in Ohio stehen zu Trump
Der ehemals starke Industriestaat ging mit seinen 18 Wahlleuten viel deutlicher an Trump als erwartet. Das entscheidende Thema: die Wirtschaft. Joe Biden hat zwar die städtischen Bezirke abgeräumt, auf dem Land aber ist Ohio tiefrot. Kein republikanischer Präsident hat jemals ohne den Bundesstaat im Mittleren Westen gewonnen – und nur zwei Demokraten jemals.
3. Texas bleibt rot
Schon bei den Halbzeitwahlen 2018 hofften die Demokraten hier auf einen Senatssitz für den «weissen Obama» Beto O'Rourke. Er hat auch in den letzten Monaten unermüdlich versucht, den Staat für die Demokraten zu drehen. Die Hoffnung: die demografische Entwicklung. Viele Schwarze verändern die Gesellschaft im ehemals tiefroten Staat. Doch es reicht (noch) nicht. Möglicherweise, weil Einwanderungspolitik hier ein entscheidendes Thema ist – ein Thema, das Donald Trump etwa mit seinem Mauerbau-Versprechen deutlich besetzt hat.
4. Viele Briefwahlstimmen fehlen
Noch fehlt (Stand Mittwochabend) ein aussagekräftiges Ergebnis in sechs Staaten: Wisconsin (10 Wahlleute), Nevada (6), North Carolina (15), Georgia (16), Michigan (16) und Pennsylvania (20). Besonders die Auszählung der Briefwahlstimmen könnte das Kräfteverhältnis noch deutlich verändern. Insgesamt gaben mehr als 64 Millionen US-Amerikaner ihre Stimme per Brief ab – in vielen Staaten werden sie erst ab dem Wahltag erfasst. Erwartet wird, dass die Briefwahlstimmen mit einer überwältigenden Mehrheit an die Demokraten gehen: Das Verhältnis zwischen per Briefwahl wählenden Demokraten und Republikanern liegt etwa bei 3:2, dazu kommen unabhängige registrierte Wähler.
5. Corona spaltet die USA zusätzlich
Es ist nicht schön zu reden: Auch ein moderater Kandidat wie Joe Biden kann das Land nicht auf Anhieb einen. Die Spaltung verläuft durch sämtliche Landesteile und Schichten: zwischen Männern und Frauen, zwischen Weissen und Schwarzen, zwischen Städtern und der Landbevölkerung, zwischen Akademikern und Arbeitern, Evangelikalen und Progressiven. Über all dem schwebt die Corona-Krise – und die Frage, wie man sie bewältigen sollte. Lockdown oder kein Lockdown? Masken tragen oder nicht? Und wie bauen wir die Wirtschaft wieder auf?