Die Bürgermeisterin von Lampedusa im Interview
«Wir kennen die Qualen der Flüchtlinge!»

Auf Lampedusa herrscht Ausnahmezustand. Fast täglich stranden auf der südlichsten Insel Italiens Flüchtlinge aus Afrika. BLICK sprach mit der Bürgermeisterin Giuseppina Maria Nicolini (54) über die menschlichen Tragödien, mit der die 4500 Einwohner zählende Insel seit einigen Jahren konfrontiert ist.
Publiziert: 23.04.2015 um 22:05 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 17:00 Uhr
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Giuseppina Maria Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa: «Die Insel trägt Trauer.»
Foto: Joseph Khakshouri
Von Myrte Müller (Text) und Joseph Khakshouri (Fotos)

BLICK: Ertrunkene Flüchtlinge, traumatisierte Menschen: Frau Bürgermeisterin, wie verkraften das die Inselbewohner?
Giuseppina Maria Nicolini
: Wir sind normale Menschen, doch wir haben Erfahrung, was Leid und Schmerz angeht. Beides ist wichtiger Teil unseres Lebens. Die Insel trägt Trauer. Die Bewohner sind erschöpft. Die Situation wird immer unerträglicher.

Das Leben auf Ihrer Insel wurde in den vergangenen Jahren zu einer grossen Herausforderung.
Ja, aber wir wissen: Wir haben unsere Pflicht erfüllt. Wir haben ein reines Gewissen. Die Flüchtlinge werden bei uns gut versorgt. Wir achten die Menschenrechte und geben unser Bestes. Wir erfüllen die Rolle, die uns die Geografie zugewiesen hat. Wir sind eine Etappe zwischen zwei Kontinenten, zwischen ­Leben und Tod. Wenn wir nicht wären, wie viele mehr würden wohl ertrinken?

Fühlen Sie sich vom Rest der Welt im Stich gelassen?
Ja. Es braucht einen europaweiten humanitären Schulterschluss. Man darf diese Probleme nicht Lampedusa, Malta und Sizilien überlassen. Die grosse Heuchelei muss ein Ende haben. Man kann nicht Menschen ertrinken lassen, damit sie nicht mehr kommen. Man kann keine Mauer ins Mittelmeer setzen. Wir von Lampedusa kennen die Qualen der Flüchtlinge und ihre schrecklichen Geschichten. Glauben Sie mir, nichts kann diese Menschen von der Fahrt übers Meer nach Europa abhalten.

Ende Jahr löste das Triton-Projekt des EU-Grenzschutzes das italie­nische Rettungsprogramm Mare Nostrum ab, das 2014 immerhin 150 000 Menschen aus Seenot ­rettete. Was halten Sie davon?
Das hat uns enorm zurückgeworfen. Die Flüchtlinge sind nicht bewaffnete Gegner, sondern Menschen, die ums Überleben kämpfen. Man braucht keine Militäraktionen gegen sie.

Was schlagen Sie vor?
Man muss die Hilfe wieder ausbauen. Triton allein ist unsinnig. Wir haben bereits an die 2000 Toten – nur in diesem Jahr. Und der Sommer steht uns noch bevor. Die Kähne sind reine Mordinstrumente. Der Handel mit den Flüchtlingen wird immer lukrativer. Mittlerweile nimmt er auf der Kriminalitätsrangliste hinter Drogen- und Waffenhandel weltweit den dritten Platz ein.

Was muss sich ändern?
Es braucht eine epochale Veränderung. Die Menschen in Not können heute weder über Asyl noch über Arbeit in die EU einwandern. Das Asylrecht muss geändert werden. Die Flucht der Opfer ist sehr lang, geht über viele Länder, in denen es europäische Botschaften gibt. Diese müssen zu Agenturen werden, in denen Asyl beantragt werden kann. In diesen Ländern braucht es Auffang­lager, in denen nicht mehr vergewaltigt, geprügelt und gefoltert wird. Die EU sollte nicht mehr nur Pakte mit Diktaturen schliessen, sondern endlich auf Zusammenarbeit drängen.

Haben Sie grosse Hoffnung für die Zukunft?
Es gibt Signale der Hoffnung. Beim Treffen der EU-Aussen- und Innenminister in Luxemburg Anfang Woche wurde ein Zehn-Punkte-Plan erarbeitet. So soll Triton ausgebaut werden. Auch vom EU-Sondergipfel, der heute stattfindet, verspreche ich mir endlich mehr Unterstützung.

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