Am 6. Juni 1944 landeten die alliierten Truppen an der Küste der Normandie. Der sogenannte D-Day war der Anfang vom Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes.
Am Ruhm dieses glorreichen Datums wollten sich der britische Premierminister und seine Anhänger messen, als sie den Samstag zum nächsten historischen D-Day erklärten: An diesem «Tag der Entscheidung» würde das britische Parlament das Joch der undemokratischen Europäischen Union endgültig abwerfen.
Unterhaus lehnt Brexit-Abstimmung ab
Das von Boris Johnson (55) verlangte blinde Votum für seinen neu ausgehandelten Brexit-Deal sollte den Weg freimachen für den Austritt Grossbritanniens aus der EU am 31. Oktober.
Daraus ist nichts geworden. Nach über fünfstündiger hitziger Debatte verweigerte das Unterhaus dem Regierungschef gestern die Gefolgschaft. 322 von 628 Abgeordneten stimmten für einen Ergänzungsantrag des Abgeordneten Oliver Letwin (63). Der Konservative wollte, dass die Parlamentarier erst dann endgültig über Johnsons Deal entscheiden, wenn sie die für dessen Umsetzung erforderlichen Durchführungsgesetze beschlossen haben.
«Sie haben uns wieder hinters Licht geführt»
«Wie können wir seriös über ein Abkommen von solcher Tragweite entscheiden, wenn selbst die Regierung noch gar nicht weiss, welche volkswirtschaftlichen Folgen es haben könnte?», wollte der schottische Abgeordnete Ian Blackford (58) von Johnson wissen. «Sie haben uns wieder und wieder hinters Licht geführt.» Und die nordirische DUP, in den letzten Jahren stets an der Seite der Konservativen, warf dem Premier Verrat vor: «Sie haben es zugelassen, dass die EU eine unsichtbare Grenze zwischen uns und dem britischen Mutterland gezogen hat.»
Die Emotionen kochten so hoch, dass Wochen vergehen werden, bis sich die Abgeordneten auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen. Und für den Fall, dass Unter- und Oberhaus dann auch noch Änderungen an dem mit Brüssel ausgehandelten Text verlangen, müsste Johnson versuchen, das Abkommen ein weiteres Mal aufzuschnüren.
Dazu werde es nicht kommen, hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (41) nach dem EU-Gipfel dieser Woche gedroht. Die Lust der verbliebenen 27 EU-Mitglieder auf eine neue Verhandlungsrunde sei gleich null. Kenner der Brüsseler Szene räumen allerdings ein, dass mit dieser Warnung vor allem der Druck auf die Briten erhöht werden sollte. «Wenn wir das Gefühl haben, dass es in London konstruktiv weitergeht, werden wir die Tür sicherlich nicht zuschlagen», hiess es am Samstagabend.
Aber die Europäer wissen auch, was Johnson von einer erneuten Brexit-Verschiebung hält. «Lieber liege ich tot im Schützengraben», hat er unmittelbar vor der Parlamentssitzung von gestern geschworen. Das Brexit-Drama geht also weiter – und für Johnson wird das Eis, auf dem er sich bewegt, immer dünner.
Denn mit der Annahme von Sir Letwins Antrag trat automatisch auch das sogenannte Benn-Gesetz in Kraft. Dieses verbietet es dem Regierungschef, das Vereinigte Königreich ohne Abkommen aus der EU zu führen.
Massendemo gegen Brexit in London
Während Hunderttausende vor dem Parlament erneut gegen den EU-Austritt protestierten, spekulierte das Unterhaus über Johnsons Reaktion auf die inzwischen absehbare Niederlage. Dessen impulsive Antwort rechtfertigte dann die schlimmsten Befürchtungen.
Er halte ungeachtet der Abstimmung am 31. Oktober als Brexit-Datum fest: «Ich denke gar nicht daran, noch heute Nacht (Samstag) in Brüssel um eine weitere Verschiebung zu bitten.» Am späten Abend tönte es dann schon wieder anders. Der Premier, hiess es aus seinem Amtssitz, wolle doch noch einen Brief nach Brüssel schicken. Offenbar hatte die Drohung der schottischen Nationalisten gewirkt: «Wir treffen uns vor Gericht wieder, Mr Prime Minister!», hatte der Abgeordnete Ian Blackford gleich nach Johnsons Äusserungen im Parlament gesagt.
Dreieinhalb Jahre sind seit dem Referendum vergangen, bei dem sich 52 Prozent der Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Inzwischen scheiterte Johnsons Vorgängerin Theresa May (63) dreimal mit dem Versuch, das Parlament von ihrem bereits fertig mit Brüssel verhandelten Ausstiegsvertrag zu überzeugen.
Nun sieht es so aus, als werde Johnson das gleiche Schicksal ereilen. Seit der Parlamentsdebatte von gestern scheint es unmöglich, die von den regierenden Brexit-Fanatikern aufgerissene Kluft in der britischen Gesellschaft in absehbarer Zeit zu schliessen.
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seitdem findet ein langwieriger Prozess der Kompromissfindung zwischen britischer Politik und der EU statt. Am 31. Januar 2020 treten die Briten offiziell aus der EU aus. Behalten Sie den Überblick im Brexit-Chaos mit dem Newsticker von Blick.ch.
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seitdem findet ein langwieriger Prozess der Kompromissfindung zwischen britischer Politik und der EU statt. Am 31. Januar 2020 treten die Briten offiziell aus der EU aus. Behalten Sie den Überblick im Brexit-Chaos mit dem Newsticker von Blick.ch.
Johnson hat zu oft gelogen
Ganz im Gegenteil: Angefeuert von seinem engsten Berater Dominic Cummings (47) hat der Premier die Abstimmung über den Austrittsvertrag immer wieder zu einem «Krieg des Volkes gegen das Parlament und seine Eliten» erklärt.
«Wie kommen Sie darauf, dass Sie auch nur ein klein wenig Vertrauen verdienen?», wollte die Liberaldemokratin Jo Swinson (39) von Johnson wissen. Keine unberechtigte Frage. Boris Johnson und seine Anhänger haben in den letzten Jahren zu oft gelogen, als dass ihnen noch geglaubt würde . «Können Sie dem Parlament ohne jeden Zweifel versprechen, dass Sie den No-Deal-Brexit nicht einfach auf nächstes Jahr verschoben haben?»
Das ist die zentrale Sorge dieser Tage im Unterhaus. Denn in den vergangenen 42 Monaten ging es immer nur um das Austrittsdatum. Erst wenn das feststeht, will die EU die Verhandlungen über praktische Details des Brexits beginnen. Bis Mitte Dezember des nächsten Jahres hat sich Boris Johnson Zeit gegeben, um das Verhältnis Grossbritanniens mit der EU auf neue Fundamente zu stellen.
Jeremy Corbyn (70) hält diesen Fahrplan für ein weiteres Täuschungsmanöver. Die Angst des Sozialistenchefs: Der Premier könnte die Verhandlungen in 14 Monaten für gescheitert und einen EU-Austritt ohne Vertrag damit zur einzig verbliebenen Option erklären.
Ein Minister verriet diese Idee bereits im Eifer des Wortgefechts. Doch sein Premier leugnet jede böse Absicht. Natürlich.
Vielleicht droht ihm ja bereits in der kommenden Woche das nächste Ungemach. Sozialist Corbyn und die Liberaldemokraten könnten seinem Deal überraschend zustimmen. Ihre Bedingung: eine zweite Volksabstimmung über den Brexit-Deal.
Die letzten Umfragen zeigen: Die Stimmung in der Bevölkerung ist mittlerweile gekippt.
Wenn sie könnten, würden die Briten heute mehrheitlich für einen Verbleib in der Union stimmen.
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.
BLICK zeigt die wichtigsten Stationen des chaotischen Prozesses seit dem Austrittsvotum der Briten auf.
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.
BLICK zeigt die wichtigsten Stationen des chaotischen Prozesses seit dem Austrittsvotum der Briten auf.