Brexit, Italiens Defizit, Schweizer Rahmenabkommen
Brüssel droht der Supersturm

Der Streit mit der Schweiz ist für die EU nur ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem, was ihr noch bevorsteht.
Publiziert: 21.10.2018 um 16:44 Uhr
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Aktualisiert: 22.10.2018 um 10:21 Uhr
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EU-Verhandlungen in Brüssel: Italiens Premier Giuseppe Conte (l.), Claude Junker, Angela Merkel.
Foto: Getty Images
Johannes von Dohnanyi

Gleich drei politische Tiefdruckgebiete erreichten Brüssel in den frühen Morgenstunden des vergangenen Donnerstag.

Weil die britische Premierministerin Theresa May wieder einmal keine überzeugenden Lösungsvorschläge für die noch ungeklärten Austrittsfragen mitgebrachte, hatte die Tafelrunde der übrigen 27 Staats- und Regierungschefs den für Ende November geplanten Brexit-Sondergipfel kurzerhand abgesagt.

Mays Vorgänger John Major hält den Brexit inzwischen schlicht für «verrückt». Jahrhundertelang sei es britische Politik gewesen, ein geeintes Europa «mit allen Mitteln» zu verhindern. Aber jetzt drohe dem Königreich die Bedeutungslosigkeit: «Das werden die Briten nie verzeihen.»

Rom droht, es könnte den nächsten EU-Haushalt torpedieren

Denn selbst für den Fall, dass EU-Verhandlungsführer Michel Barnier und London noch einen Kompromiss aushandeln: Die Brexit-Befürworter haben ihre Revolte im Londoner Parlament schon angekündigt. Die Chance sinkt, dass Grossbritannien die EU am 29. März 2019 mit einem geregelten Austrittsvertrag verlassen kann.

Nur Stunden zuvor war Italiens Premierminister Giuseppe Conte darüber informiert worden, dass die EU-Kommission seinen über neue Schulden finanzierten Haushaltsentwurf für das kommende Jahr wohl ablehnen wird. 

Dass die EU sich dabei nur an die eigenen – und auch von Italien unterschriebenen – Regeln halten würde, interessiert die römischen Populisten nicht. Schon haben Innenminister Matteo Salvini und seine Freunde wissen lassen, dass sie sich jede Einmischung in die «inneren Angelegenheiten» Italiens verbitten. Ihre Drohung: Rom könnte den zur Zeit verhandelten nächsten EU-Haushalt torpedieren.

Rahmenabkommen mit der Schweiz wohl gescheitert

Und dann war da auch noch das Rahmenabkommen mit der Schweiz. Diese Verhandlungen hatte Kommissionschef Jean-Claude Juncker eigentlich längst erfolgreich beenden wollen. 

Stattdessen ist das Abkommen wohl endgültig gescheitert – vor allem wegen des von SP und Gewerkschaften angekündigten Vetos.

In «normalen» Zeiten hätte sich Brüssel auf eine schwierige, aber beherrschbare Lage vorbereitet. Jetzt aber droht der Gemeinschaft ein politischer Supersturm. 

Denn zeitgleich mit den Briten und Italienern rütteln die in der Visegrád-Gruppe versammelten Osteuropäer am Wertekanon der EU. Ungarn, Polen, Tschechien und die Slovakei verweigern die vertraglich fixierte Solidarität etwa in der gemeinsamen Aussen-, Verteidigungs- und Migrationspolitik. Gleichzeitig bestehen sie darauf, aus den finanziellen Fleischtöpfen Brüssels auch in Zukunft aus dem Vollen schöpfen zu können.

Druck auf Macron wächst

Gemeinsam träumen Europas Populisten vom Sieg bei den Wahlen zum Europaparlament im kommenden Mai und dem Rückbau der EU zu einer vorwiegend wirtschaftspolitischen Interessengemeinschaft. 

Auftrieb verspüren die EU-Kritiker auch, weil der Druck auf Emmanuel Macron wächst. Die versprochenen innen- und wirtschaftspolitischen Reformpläne, mit denen der französische Präsident sein Land international wieder wettbewerbsfähiger machen will, hängen eng mit seinen Vorschlägen für eine Runderneuerung der EU zusammen.

Doch inzwischen verliert der ehemalige Hoffnungsträger in der Gunst der Wähler. Die ersten Minister haben sein Kabinett verlassen. Der deutsch-französische Europamotor stottert seit den Bundestagswahlen vor über einem Jahr. Macron droht an der Berliner Dauerkrise zu scheitern. 

Es wäre leichtfertig, die EU abzuschreiben

Gerade erst verlor ihr christsozialer Unionspartner bei den bayrischen Landtagswahlen die absolute Mehrheit. Und schon steht Merkel und ihrem sozialdemokratischen Koalitionspartner das nächste Debakel ins Haus. Bei den Wahlen am kommenden Sonntag in Hessen müssen sich beide Parteien auf herbe Verluste einstellen. 

Für diesen Fall zirkuliert in der SPD bereits der Plan, zur eigenen Rettung aus der Berliner Regierung auszusteigen. Und Angela Merkel würde auf dem CDU-Parteitag im Dezember wohl den Parteivorsitz und nach eigenem Verständnis auch die Kanzlerschaft verlieren. 

In dieser Situation des permanenten politischen Tumults gibt es in Berlin für Europa kaum noch Raum.

Doch es wäre leichtfertig, die EU einfach abzuschreiben. Bis auf Italien findet die Gemeinschaft bei der grossen Mehrheit ihrer Bürger nach wie vor Zustimmung. In höchster Not haben die Mitgliedsländer in der Vergangenheit immer wieder Solidarität und Kompromissbereitschaft bewiesen.

Doch das Menetekel steht an der Wand: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte muss sich die Europäische Union gegen ebenso kurzsichtige wie unverantwortliche Feinde in ihrem Inneren verteidigen.

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