Am 22. Dezember 1969, kurz vor Weihnachten, fiel hinter Marianne Steiner (69) die Gittertür ins Schloss. So schnell sollte sie nicht wieder aufgehen. Der Ort, wo die damals 18-Jährige eingesperrt wurde, heisst Hindelbank, ein Frauengefängnis im Bernbiet. «Das war vielleicht ein Weihnachtsgeschenk!», lacht sie. Nicht bitter, aber trocken. Die Frau auf dem Sofa im sechsten Stock eines Lausanner Hochhauses wirkt jünger, als sie ist. Was erstaunt, bei dem Horror, den sie erlebte: «Die Wut ist nie weggegangen, sie ist immer noch da.»
Zur Strafe sass sie eine Woche in Einzelhaft
Steiner kam als uneheliches Kind zur Welt, sie wurde in eine Pflegefamilie abgeschoben. Gegen den Willen ihrer Mutter, mit der sie danach nur noch selten Zeit verbringen durfte. Mit 16 wurde Marianne Steiner als Haushaltshilfe in die Deutschschweiz geschickt. Weil sie dort einmal Jungenbesuch hatte, wurde sie abermals verbannt: diesmal in ein Mädcheninternat in Genf. Wie sie erzählt, stand es unter dem Regime der Heilsarmee: Der Drill nahm zu, zusätzlich wurden die Mädchen mit körperlicher Arbeit geschunden.
Weitere unschöne Stationen folgten, die Jugendliche begann immer öfter auszureissen.
Irgendwann fand ihr Vormund – angesehenes Mitglied der Gesellschaft, Ingenieur und Autobahnbauer –, es sei wirklich an der Zeit, dass der jungen Frau Disziplin eingeimpft werde. So landete sie in Hindelbank. Ohne je eine Straftat begangen zu haben. Ohne Prozess. Ohne Gerichtsurteil. Wie Marianne Steiner erging es Zehntausenden Jugendlichen und Erwachsenen. Sie wurden einfach weggesperrt.
Einziger Trost war eine Gitarre
Ihr Martyrium dauerte mehr als ein Jahr, sie lebte Seite an Seite mit Mörderinnen, immer wieder kam es zu Kämpfen unter Insassinnen.
Sie habe gelernt, still zu sein, sagt sie heute, sich nicht in Gefahr zu begeben. Morgens bis spätabends schuftete Steiner an der Presse der hauseigenen Wäscherei. Zu jener Zeit liess das Berner Frauenspital seine Wäsche in Hindelbank waschen, auch das Berner Inselspital gehörte zu den Kunden, wie Historiker nun belegen konnten.
Nach der Arbeit weinte sie sich völlig erschöpft in ihrer Zelle aus. Einziger Trost war eine Gitarre, auf der sie das Lied «Le pénitencier» spielte – auf Deutsch: «die Strafvollzugsanstalt». Seither hat sie nie wieder eine Gitarre angerührt.
Auch aus Hindelbank habe sie zu fliehen versucht, aber die Wachhunde waren stets schneller: «Ich kam nur ein paar Hundert Meter weit.» Zur Strafe wurde sie ins Loch gesteckt, einen Raum unter der Erde ohne Licht. Eine Woche Einzelhaft. In Diktaturen wird die Strafe als Foltermethode angewendet.
Eine Rechnung mit dem Staat offen
Am 4. Januar 1971 wurde sie endlich entlassen, 769 Franken bekam sie ausgehändigt, umgerechnet zwei Franken pro verlorenen Lebenstag. Über das Unrecht, das ihr widerfuhr, hat sie mit keiner Menschenseele gesprochen – jahrzehntelang nicht. Nicht mit ihren Partnern, ihren Freunden, ihren vier Kindern. Es ging nicht. Bis sie 2019 erstmals im Fernsehen ein anderes Opfer sah, das offen erzählte. Marianne Steiner: «Alles rauszulassen, war ein Kampf, das war sehr, sehr schwer!»
Nun kämpft sie, unablässig. Es geht ihr um Gerechtigkeit. Der Mann, der ihr als Vormund so viel Unrecht angetan hat, lebt nicht mehr. Sie hat seinen Sohn aufgesucht, um ihm alle Dokumente auszuhändigen, damit er Bescheid weiss. Der Sohn aber wollte nichts davon wissen. Sie gab ihm die Papiere trotzdem. «Das gehört zu Ihrer Familiengeschichte», sagte sie ihm.
Auch mit dem Staat hat Marianne Steiner noch eine Rechnung offen. Die Schweiz habe für all die administrativ versorgten Menschen noch nicht genügend Reparationen geleistet. «Die 25'000 Franken Wiedergutmachung reichen nicht aus», sagt sie. Konkret fordert sie eine Rente und eine Steuerbefreiung auf Lebenszeit. «Denn wir haben unser Leben lang genug gearbeitet.»