Aggressionen gegen die Ordnungshüter nehmen massiv zu
Beschimpft, bedroht, beschossen

Der Beruf des Polizisten wird immer gefährlicher. Ein Angriff im Appenzell endete beinahe tödlich. Parlamentarier fordern für Täter höhere Strafen.
Publiziert: 08.01.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 15:20 Uhr
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Foto: KEYSTONE
Roland Gamp und Coya Vallejo

Seit mehr als 30 Jahren steht Hanspeter Saxer (54) im Dienst der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden. «Einen so aufwühlenden Fall habe ich noch nie erlebt», sagt der Mediensprecher. «Diese Erfahrung wünsche ich niemandem.»

Am Dienstag waren zwei Beamte bei einer Hausdurchsuchung in Rehetobel AR schwer verletzt worden. Der vorbestrafte Täter Roger S.* (†33) schoss einem Polizisten (37) ins Bein, den anderen (29) traf er ins Herz. Saxer: «Er wurde mehrmals operiert. Sein Zustand ist stabil, aber weiterhin kritisch.»

Die Gesetzeshüter gingen ihrer Arbeit nach, erfüllten ihre Pflicht. Statt Respekt schlug ihnen lebensgefährliche Gewalt entgegen. Eine Erfahrung, die immer mehr Polizisten machen müssen. 2015 verzeichnete die Kriminalstatistik 2808 Fälle von Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. Zehn Jahre zuvor waren es nur 1313, weniger als halb so viele.

Heute sind die Polizisten auch deutlich häufiger verbalen Attacken ausgesetzt. Das zeigt die Diplomarbeit des Winterthurer Stadtpolizisten Daniel Kindlimann (40). Er hat über 900 Beamte aus verschiedenen Korps zum Thema Ehrverletzung befragt. Über 88 Prozent gaben an, dieses Delikt habe in den letzten Jahren zugenommen. 67 Prozent aller Beamten wurden laut seiner Umfrage bereits Opfer von Verleumdung, übler Nachrede oder Beschimpfung. Die Hälfte erfuhr bei solchen Angriffen sogar Gewalt.

«Die Ergebnisse überraschen mich leider nicht», sagt Kindlimann. In den letzten Jahren habe «der Respekt in der Bevölkerung deutlich abgenommen». Als «Hurensohn» werde man bezeichnet, als «Sauschmier» und «Wichser». Dazu bespuckt oder mit entblösstem Hintern verhöhnt. Das Problem: «Solche Delikte werden kaum geahndet.» Nur jeder vierte Polizist erstattete laut der Umfrage Anzeige. «Das merken die Täter natürlich. Und haben keine Hemmungen, auch in Zukunft aggressiv aufzutreten.»

Der Verband Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB) kennt das Problem. «Leider ist das Interesse der Staatsanwälte und Richter oft klein», sagt VSPB-Präsidentin Johanna Bundi Ryser (53). «Für sie sind solche Ehrverletzungen Bagatelldelikte, die nur selten konsequent verfolgt werden.»

Als Polizistin oder Polizist gerate man immer wieder in brenzlige Situationen: «Wir sind zunehmend das Ventil, durch das jeder seinen Frust ablässt. Den Leuten scheint gar nicht bewusst zu sein, dass in jeder Uniform auch ein Mensch steckt», so Bundi Ryser.

Polizisten sollen wieder Respektspersonen sein

Wie schwer die Attacken Beamte treffen können, weiss Michael Stark (54): «Wenn man von einem psychisch kranken Menschen angepöbelt wird, haben die meisten noch Verständnis», sagt der Psychologe der Zürcher Stadtpolizei. «Wenn ich aber als Polizist helfen will – etwa bei einem Unfall- oder Rettungseinsatz – und dabei tätlich angegriffen werde, dann löst das Frust und Unverständnis aus.» Bei einigen Polizisten lasse sich dies mit Gesprächen klären. «Andere stellen die Frage, ob sie diesen Job wirklich noch machen wollen. In Extremfällen sind physische Krankheiten wie Schlafstörungen die Folge.»

Das Appenzeller Korps hat den Einsatz in Rehetobel am Freitag gemeinsam aufgearbeitet: «Wir luden alle Mitarbeiter ein, gingen den Einsatz zusammen durch», so Saxer. Teilgenommen habe ein Grossteil der Polizisten. «Viele hatten schlaflose Nächte, waren nach dem Vorfall wie gelähmt.» Es sei wichtig, über das Ereignis offen zu sprechen. «Wir haben dafür Seelsorger zur Verfügung gestellt und Polizisten mit psychologischer Ausbildung.»

Einige Politiker versuchen, den Beamten mit neuen Gesetzen zu helfen. Die Nationalräte Bernhard Guhl (44, BDP, AG) und Marco Romano (34, CVP, TI) lancierten im Dezember parlamentarische Initiativen, um die Strafen für Gewalt gegen Beamte zu erhöhen. Täter sollen nicht mehr unter drei Tagen Haft davonkommen. Chantal Galladé (44, SP, ZH) will mit einer parlamentarischen Initiative erreichen, dass den Waffenschein nur noch erhält, wer ein Bedürfnis nachweisen kann.

Nationalrat Leo Müller (58, CVP, LU) will mit einer Motion dafür sorgen, dass Ehrverletzungen besser geahndet werden können. «Nicht nur der betroffene Polizist, sondern das Korps an sich sollte eine Anzeige erstatten können.» Das entlaste die Beamten und könne «zu einer konsequenten Ahndung von Ehrverletzungen führen, was bei der aktuellen Entwicklung enorm wichtig wäre».

Beat Villiger (59, CVP), Vizepräsident der Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren, begrüsst das politische Engagement: «Polizisten haben in der Regel ein dickes Fell und lernen, mit Aggressionen und Spannungen umzugehen.» Doch es gebe Grenzen. «Wenn diese immer öfter überschritten werden, dann muss der Staat eingreifen.»

Niemand erhalte gerne eine Busse. «Aber den Fehler beim Beamten zu suchen statt bei sich selbst, alle Aggression an ihm auszulassen, das geht nicht.» Der Polizist müsse wieder als Respektsperson wahrgenommen werden. «Sonst wird die Situation eskalieren.»

 *Name der Redaktion bekannt

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