Auf eigene Faust verliess Abdi (18) seine Heimat. «In Somalia herrscht Krieg, ich konnte da nicht bleiben», sagt er. Der Teenager überquerte mit einem Schlepper das Mittelmeer, schlug sich bis in die Schweiz durch. Jetzt sitzt er im Wohnzimmer von Familie Steiger. Im beschaulichen Muri bei Bern, weit weg von Gewalt und Zerstörung. «Ich bin froh, kann ich hier sein. Es ist wie ein neues Zuhause.»
Zu verdanken hat Abdi die Unterkunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Diese rief das Projekt «Gastfamilien» ins Leben. Und bot Privatpersonen erstmals die Möglichkeit, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Im März 2015 konnten die ersten Personen vermittelt werden. Zwei Jahre später sind bereits 234 Flüchtlinge bei Privaten untergebracht, wie eine Umfrage von SonntagsBlick in den Kantonen zeigt.
Abdi und Mogos haben bereits einen leichten Berner Akzent
«Jeden Abend sah ich das Elend der Flüchtlinge in den Nachrichten», sagt Peter Steiger (62). Er und Ehefrau Ana wollten helfen. «Also meldeten wir uns als Gastfamilie.» Im letzten Frühling zog Mogos (18) aus Eritrea ein, kurz darauf auch Abdi. «Der Anfang war nicht leicht, alles war neu für die beiden», erinnert sich Steiger.
Mogos ass Pizza mit Schinken. Und erschrak, als er merkte, dass es sich um Schweinefleisch handelt. Abdi hatte bald eine Freundin. «Er wollte dann auch noch eine zweite», so Steiger. «Weil er gar nicht wusste, dass wir in der Schweiz monogam leben.» Genau hier liege der Vorteil: «Bei uns zu Hause lernen sie die Schweizer Kultur direkt kennen. Und werden so viel besser integriert als in einem Heim, wo sie unter sich bleiben.» Im Haus werde nur Deutsch gesprochen. «So haben Abdi und Mogos die Sprache enorm schnell gelernt. Sie haben schon einen leichten Berner Akzent», sagt Steiger.
Nur vier Kantone setzten beim ursprünglichen Pilotprojekt der Schweizerischen Flüchtlingshilfe auf die private Unterbringung. Mittlerweile ist sie in 22 Kantonen möglich. Mit unterschiedlichem Erfolg, wie die Zahlen zeigen. «Jede Platzierung braucht vertiefte Abklärungen, damit es dann wirklich passt», sagt Julia Vielle (33), Projektleiterin bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Leider setzen einige Kantone dafür zu wenig Ressourcen ein.»
Bürokratie und strenge Auflagen bremsten zuerst
Der Anfang des Projekts «Gastfamilien» verlief harzig. Nur eine Handvoll Flüchtlinge fanden in den ersten Monaten eine private Bleibe. «Das lag einerseits an der Bürokratie in den Kantonen», so Vielle. «Aber auch an den strengen Auflagen.» Die Flüchtlingshilfe verlangte zum Beispiel eine separate Nasszelle für jede aufgenommene Person. «Das konnten nur die wenigsten Gastgeber erfüllen. Deshalb stellen wir diese Bedingung heute nicht mehr.»
Das Ehepaar Steiger erfüllte alle Auflagen. «Unsere Kinder sind ausgezogen, ihre Zimmer standen leer», sagt Peter. «Wir sind froh, ist jetzt wieder Leben im Haus.» Nicht nur die Flüchtlinge profitieren. «Zu erfahren, woher die beiden kommen, wie man dort lebt, das ist eine Bereicherung für uns.»
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe zieht nach zwei Jahren eine positive Bilanz. «Dass so viele Kantone eigene Projekte gestartet haben, ist erfreulich», sagt Julia Vielle. Sie ist zuversichtlich, dass sich die Mechanismen in den Kantonen noch einspielen. «Und künftig noch mehr Flüchtlinge bei Privaten untergebracht werden können.»
Das Ehepaar Steiger ist stolz auf Abdi und Mogos. «Einer von ihnen hat eine Lehre als Polybauer angefangen, der andere bringt aus der Schule nur gute Noten heim», sagt Peter. «Das wäre vermutlich nicht der Fall, wenn man sie einfach in ein Heim gesteckt hätte.»