Das Bundesgericht hat die Verurteilung von Erwin Sperisen zu 15 Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mord aufgehoben. Es folgte einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Der ehemalige Polizeichef wurde noch am Freitag aus dem Strafvollzug entlassen.
Erwin Sperisen verliess die Justizvollzugsanstalt Witzwil BE kurz nach 14.30 Uhr. Er stehe «unter Schock», sagte er auf die Frage eines Journalisten vor der Anstalt. Begleitet von einem seiner Anwälte, beteuerte er einmal mehr seine Unschuld.
Seine Behandlung durch die Genfer Justiz in den vergangenen Jahren bezeichnete er als Ungerechtigkeit. Der vom Bundesgericht angeordneten Wiederaufnahme des Verfahrens sehe er gelassen entgegen.
Sein Anwalt Giorgio Campa sagte, es handle sich um den grössten Justizskandal der Schweiz. Ein Unschuldiger sei elf Jahre lang eingekerkert worden. Angaben des Anwalts zufolge will der 53-jährige Sperisen in der Schweiz bleiben.
Präsidentin war befangen
Das Bundesgericht hiess einen Rekurs des ehemaligen Chef der Nationalpolizei Guatemalas teilweise gut. Es hob das Urteil von 15 Jahren Freiheitsstrafe des Genfer Kantonsgericht wegen Beihilfe zum Mord aus dem Jahr 2018 auf. Der Bundesgerichtsentscheid hätte erst am Montag veröffentlicht werden sollen. Er wurde wegen des Bruchs der Sperrfrist durch ein Medium am Freitag bekannt.
Die Lausanner Richter stützen sich bei ihrem Entscheid auf ein EGMR-Urteil vom 13. Juni. Der Strassburger Gerichtshof war zum Schluss gekommen, dass die Präsidentin der Beschwerdekammer des Genfer Berufungsgerichts beim Prozess im April 2018 befangen war. Damit wurde das Recht des schweizerisch-guatemaltekischen Doppelbürgers auf ein unparteiisches Gericht verletzt.
Elf Jahre Prozess nicht übermässig lang
In seinen Erwägungen wies das Bundesgericht Einwände der Genfer Staatsanwaltschaft gegen die Begründung des EMGR zurück, wonach der Gerichtshof sich auf einen falschen Sachverhalt gestützt haben soll.
Im Weiteren beschied das Bundesgericht die Genfer Staatsverfolgung, der Entscheid aus Strassburg sei endgültig. Die Schweiz sei der europäischen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet und setze sich für den Vollzug der EMGR-Beschlüsse ein.
Sein eigenes Urteil von 2019 mit der Bestätigung der Strafe des Kantonsgerichts hob das Bundesgericht nicht auf. Die Dauer des Verfahrens von elf Jahren bezeichnete es zudem als nicht übermässig lang. Sie erkläre sich mit der äussersten Schwere des Falls und dem internationalen Charakter.
Es geht nur um die Befangenheit, nicht um die Gründe zur Verurteilung
In seinem Entscheid befand das Bundesgericht, der Fall Sperisen müsse auf den Zustand zurückversetzt werden, in dem er sich vor dem Zeitpunkt der vom EMGR gerügten Äusserungen der Genfer Gerichtspräsidentin befunden hatte. Das Genfer Berufungsgericht muss das Verfahren somit auf dem Stand von Anfang Oktober 2017 wieder aufnehmen.
Die Genfer Staatsanwaltschaft nahm das Urteil zur Kenntnis. Sie erinnerte jedoch daran, dass das EGMR-Urteil und das Bundesgerichtsurteil «sich ausschliesslich auf die Frage der scheinbaren Befangenheit einer Richterin beziehen und keineswegs auf die Gründe, die zur Verurteilung von Erwin Sperisen geführt haben».
2007 war er mit seiner Familie nach Genf geflohen
Das Bundesgericht entschied nicht über eine Freilassung von Sperisen. Das Genfer Straf- und Massnahmenvollzugsgericht hatte die Entlassung aus dem Strafvollzug zwar Ende September angeordnet, was aber an einem Rekurs der Staatsanwaltschaft scheiterte. Die Beschwerde erhielt wegen des Fluchtrisikos aufschiebende Wirkung. Am Freitag kam das Gericht auf seinen Entscheid zurück und setzte Sperisen auf freien Fuss.
Sperisen war seit 2012 inhaftiert. Im Februar 2024 hätte er nach Verbüssen von zwei Dritteln seiner Strafe bedingt freikommen können. 2007 war er mit seiner Familie nach Genf geflohen.
Im April 2018 hatte ihn das Genfer Kantonsgericht in zweiter Instanz wegen Beihilfe zum Mord für schuldig befunden und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts sollte Sperisen bei der Erstürmung einer Strafanstalt im Jahr 2006 an der Ermordung von sieben Gefangenen mitgewirkt haben. (SDA)