Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn

«Fahrbahn ist ein graues Band / Weisse Streifen, grüner Rand», singen Kraftwerk monoton. Die Autobahn ist ein seltsamer Ort, an dem niemand lange sein will. Trotzdem bietet er bei genauer Betrachtung im Stau und am Strassenrand eine erstaunliche Vielfalt.
Publiziert: 17.05.2020 um 09:39 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Vor ein paar Wochen ist Kraftwerk-Mitbegründer Florian Schneider 73-jährig gestorben. Ein Meilenstein war es, als einer meiner älteren Brüder 1974 die Musik der deutschen Elektro-Pioniere in Form des legendären «Autobahn»-Albums nach Hause brachte; versteinert fühlte ich mich Jahrzehnte später, als ich – schon über 40-jährig! – Auto fahren lernte und erstmals eigenverantwortlich mit 120 Stundenkilometern auf der Autobahn fuhr.

«Zwischen Mythos und Alptraum» untertitelt der deutsche Autor Michael Kröchert (45) sein eben erschienenes «Autobahn»-Buch, wofür er 2019 das ganze Jahr lang kreuz und quer durch sein Heimatland gefahren ist. Auch er verbindet mit der Autobahn eigene Erinnerungen («Erste Liebe») und neue Erlebnisse («Einsatz mit der Autobahnpolizei»), erweitert sein erzählendes Sachbuch aber um ernüchternde Geschichten von Truckern und erschreckende Geschichte aus der Nazizeit.

Zu Beginn steht Kröchert auf der Ruine einer Autobahnunterführung aus den 1930er-Jahren. «Zuerst hatten die Nationalsozialisten behauptet, die Arbeitslosigkeit mit dem Autobahnbau zu bekämpfen, doch das stimmte nicht», schreibt Kröchert. «Zu keinem Zeitpunkt waren mehr als 125'000 Arbeiter auf den Reichsautobahn-Baustellen beschäftigt.» Ein Klacks bei sechs Millionen Arbeitslosen. Und dass Hitler die Autobahn erfunden habe, sei auch falsch – in Italien gab es früher eine Autostrada.

Abgesehen vom Motorenlärm ist die Autobahn akustisch ein stiller Ort: Kaum ein Fahrer will mit dem Reporter reden, als er wegen einer Vollsperrung durch einen Unfall stundenlang im Stau steht. Und die gelben Blumen am Strassenrand sind auch stumm. Von einer Botanikerin erfährt Kröchert, dass hier ausserordentlicherweise seltene Mittelmeerpflanzen gedeihen können, denn sie müssen mit Salzwasser, Trockenheit und Hitze klarkommen.

Nur einmal kommt es zu längeren Gesprächen, als Kröchert neben einem Trucker Platz nimmt und mitfährt: «Würdest du gerne öfter jemanden mitnehmen? Ist das eine Abwechslung oder bist du lieber alleine?» «Lieber alleine. Gut, wenn man mal abends mit den Kollegen zusammensitzt, wenn man dieselbe Tour wie sie hat, dass man da mal’n Schwätzchen macht, dann geht es. Aber vor allem abends will ich meine Ruhe haben.»

Am Schluss zieht Kröchert Bilanz seines Jahres auf der Autobahn: «Die Autobahn ist ein ruheloser Ort, ein harter Ort, ein kalter Ort. Offen und verschlossen zugleich – jeder in seinem Wagen für sich.» Täglich seien Millionen Menschen darauf unterwegs gewesen, doch niemand – «das war das Verrückte und Gespenstische» – habe eine echte Spur hinterlassen. Lärm und Abgase in der Luft, Müll am Strassenrand, gewiss, aber all das verflüchtigt sich.

Michael Kröchert, «Autobahn – ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum», Tropen

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