Die Idee einer gesellschaftlichen Elite, die leitende Aufgaben wahrnimmt, hat für viele etwas Negatives. «Die Reichen und Mächtigen da oben gegen uns Machtlose hier unten.» Das ist ein beliebtes Narrativ von Populisten, die sich als Stimme des Volkes ausgeben. Und doch brauchen wir eine gute, leistungsfähige Elite. Wir brauchen Menschen, die aufgrund besonderer Talente für die Allgemeinheit eine Führungsrolle übernehmen.
Wenn die Elite heute dennoch in Verruf gerät, dann vielleicht deshalb, weil deren Vertreter ihre gesellschaftliche Rolle mit moralischer Autorität gegenüber dem Volk verwechseln. Beispiele sind der Regierungsstil oder der mediale Mainstream in Ländern wie Deutschland und Schweden.
«Wir schaffen das»
Doch es gibt auch in der Schweiz genug Stars aus dem politisch-kulturellen Leben, die wie eine moralische Instanz auftreten, wie Heilpädagogen des sozialen Zusammenhalts. Solche Leute sind nicht Teil einer Elite, die der Allgemeinheit dient, sondern einer Elite, die sich über uns erhebt und für uns alle das gute Leben kennt.
«Die Welt ist im Umbruch, aber wir schaffen das. Wir erleben grosse Herausforderungen, aber wir haben keine Angst vor den offenen Grenzen unserer Solidarität.» Das sind typische Botschaften dieser Elite. «Populisten werden uns nicht verführen. Terroristen und Rechtsextreme können unseren Lebensstil nicht kaputt machen. Wir kämpfen gegen Ausgrenzung, Fake News und Hate Crime.»
Glaubensbekenntnisse statt Argumente
Das sind keine politischen Argumente mehr, die sich dem Wettbewerb der Ansichten und Ideen stellen, sondern im Grunde Glaubensbekenntnisse, zu denen man sich als guter Mensch bekehren muss.
Was wir im Gegensatz dazu brauchen ist eine Elite, die sich bewusst ist: Es geht nicht darum, Menschen zu bevormunden. Sogar dann, wenn ich mich ganz besonders dumm oder desinteressiert anstelle, habe ich ein Recht darauf, selber zu bestimmen, was ich für richtig oder falsch halte.
Weg mit dem Moralin!
Die Gestaltung der Freiheit ist keine Führungsaufgabe der Elite, sondern Aufgabe des Einzelnen. Und die politische Auseinandersetzung sollte möglichst frei bleiben von Moralin und Selbstgerechtigkeit. Denn wie schon der Dichter Oscar Wilde sagte: «Es gibt zwei Klassen von Menschen, die Gerechten und die Ungerechten. Die Einteilung wird von den Gerechten vorgenommen.»
Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Soeben ist sein Buch «Das therapeutische Kalifat» (Fontis Verlag, Basel) erschienen. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.