Weltanschauung mit Giuseppe Gracia
Der Mensch als Ersatzteillager

Wann ist ein Mensch wirklich tot? Die Frage ist umstritten – und hat grossen Einfluss auf den Umgang mit Organspenden.
Publiziert: 29.10.2018 um 16:47 Uhr
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Aktualisiert: 29.10.2018 um 16:49 Uhr
Der Churer Bischofssprecher Giuseppe Gracia verlässt das Bistum nach zehn Jahren Medienarbeit per sofort.
Giuseppe GraciaKolumnist

Eigentlich wäre es eine zutiefst christliche Haltung: Wenn ich sterbe, spende ich meine Organe einem anderen Menschen und rette damit vielleicht Leben. Aber leider ist die Organspende auch ein lukratives Geschäft und birgt die Gefahr, dass wir den sterbenden Menschen zum Ersatzteillager degradieren.

In der Regel werden Organe nach einem anhaltenden Herz-Kreislauf-Stillstand oder nach dem Hirntod entnommen. Von 2011 bis 2017 wurde nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand eine Wartezeit von zehn Minuten eingehalten, bevor der Patient für tot erklärt werden konnte.

Fünf statt zehn Minuten

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat im Jahr 2017 diese Wartezeit auf fünf Minuten halbiert, um frischere Organe zu bekommen. Gemäss Transplantationsgesetz dürfen nur dann Organe entnommen werden, «wenn die Funktionen des Hirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind» (Art. 9 Abs. 1).

Andererseits zeigt eine Studie der Bioethikerin A.L. Dalle Ave und des Neurologen J.L. Bernat aus dem Jahr 2016, dass diese Bedingung gar nicht gegeben ist: «Eine Stillstandszeit von fünf bis zehn Minuten reicht nicht aus, um die für die Bestimmung des Hirntodes notwendige irreversible Einstellung aller Hirnfunktionen zu erreichen. Daher erfüllen Organspender nach Herz-Kreislauf-Stillstand zum Zeitpunkt, bei dem sie als tot erklärt werden, die Voraussetzung der Irreversibilität für den Hirntod nicht.»

Blinder Fleck der Diskussion

Dies ist einer der Gründe, warum in Deutschland die Organentnahme nach Herz-Kreislauf-Stillstand verboten ist. Abgesehen davon gibt es seit Jahren Kritiker, welche die Problematik des Hirntodes grundsätzlich als blinden Fleck der Debatte um die Organspende betrachten. Für diese Kritiker stellt der Hirntod, zu dem es mehr als zwei Dutzend Definitionen gibt, überhaupt keine objektive Todesdefinition dar.

Dies alles zeigt: Wenn es um den Umgang mit Organspenden geht, müssen wir sehr genau hinschauen. Der Wunsch des Einzelnen, Leben zu retten, steht der Dynamik eines medizinisch-technischen Fortschritts gegenüber, mit dem sich sehr viel Geld verdienen lässt. Das sind ökonomische Interessen, die in den Sterbeprozess einzugreifen drohen, um den Menschen zu instrumentalisieren.

Die Würde des Sterbenden

Als ethische Leitlinie bräuchten wir deshalb eine Haltung, wie sie Professor Manfred Spieker von der Universität Osnabrück kürzlich formuliert hat: «Die Würde des Sterbenden hat Vorrang gegenüber den Interessen eines Kranken an einem neuen Organ.»

Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein Buch «Das therapeutische Kalifat» ist erschienen im Fontis Verlag, Basel. In seiner Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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