Leitartikel zum neuen Jahrzehnt
Willkommen, ihr Zwanziger!

Nie zuvor veränderte sich so rasch so viel. Und oft kommt es erst noch anders, als wir denken. Winston Churchill soll gesagt haben: «Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.» Zum Beginn des neuen Jahrzehnts sei es hier dennoch gewagt.
Publiziert: 30.12.2019 um 23:39 Uhr
Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe.
Foto: Shane Wilkinson
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Christian Dorer

Heute verabschiedet sich nicht nur ein Jahr von uns. Sondern ein ganzes Jahrzehnt: Ade, 2010er-Jahre, willkommen, ihr 2020er!

Was die neuen Zwanzigerjahre wohl bringen werden?

Über Jahrtausende plätscherte die Zeit einfach so dahin. Wenn nicht gerade eine Naturkatastrophe oder ein Krieg dazwischenkam, änderte sich kaum etwas.

Heute bringt jedes neue Jahrzehnt mehr Veränderungen hervor als das vorangegangene. Nur: Welche das sein werden, sehen wir leider so gut wie nie kommen.

Zu Silvester 2009/2010 sinnierten die Leitartikler der Schweizer Zeitungen über das Bankgeheimnis, das gerade geschleift wurde, über den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi, der gerade zwei Schweizer Geiseln festhielt, über die Anti-Minarett-Initiative, die gerade angenommen worden war, über die Angst vor der Schweinegrippe und über die Verhaftung des Regisseurs Roman Polanski.

Alles Themen, von denen längst keiner mehr spricht.

Kaum jemand sah jedoch kommen, was die Menschheit wirklich bewegt hat. Zum Beispiel das Smartphone, das verändert hat, wie wir kommunizieren, einkaufen, reisen, lieben, gesund bleiben, Nachrichten und Filme sehen – das aber auch Revolutionen auslösen kann.

Ohne die Mobilisierung über Social Media wären die Diktatoren in Tunesien, Ägypten und Libyen wohl noch an der Macht, und auch die heutigen Proteste in Hongkong, Südamerika, Indien und im Nahen Osten oder die «Fridays for Future» wären so nicht möglich.

Persönliche Daten wurden zum Gold unserer Zeit. Sie machten eine Handvoll Konzerne zu Milliarden-Unternehmen. Streamingdienste wie Netflix revolutionieren das Fernsehen, Spotify das Musikbusiness, Uber die Taxibranche, Revolut das Banking.

Und hätte irgendjemand Negativzinsen für möglich gehalten? Dass ein 16-jähriges Mädchen eine weltweite Klimabewegung auslöst? Oder dass sogenannte Influencer mit Selfies Millionen verdienen? Nicht einmal der billigste Hollywood-Schinken hätte es mit solchen Plots auf die Leinwand geschafft. Geschweige denn damit, dass in Sachen Gleichstellung der Frau endlich etwas geschieht. Das uralte Thema kommt durch #MeToo voran.

Nein, keiner sah das vor zehn Jahren kommen. Und auch heute weiss niemand, was die grossen Entwicklungen der 2020er-Jahre sein werden. Drei Themen gehören allerdings höchstwahrscheinlich dazu:

Die digitale Revolution setzt sich fort – und zwar in höherem Tempo: Bis 2050 wird vermutlich jeder dritte Job verschwinden. Der Mensch wird seinen Lebensinhalt neu definieren müssen: Welchen Stellenwert hat die Arbeit, was macht er mit seiner neuen Freizeit, wie finanziert er sich in Zukunft? Was, wenn Maschinen eines Tages intelligenter werden als wir? Wie verbringen wir unsere Zeit, wenn ewiges Leben Realität ist?

Der Klimawandel verändert die Welt – und die Menschheit: All jene, die steigende Durchschnittstemperaturen für einen Hype halten, werden begreifen müssen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse über den menschengemachten Klimawandel nicht mehr zu widerlegen sind. Entweder wir passen unseren Lebensstil freiwillig an, oder die Natur wird uns dazu zwingen.

China wird noch stärker – und zu unserem Gegenspieler: Ein neuer kalter Krieg zwischen den USA und China ist längst entbrannt. Zwei Systeme prallen aufeinander: Hier das freiheitliche, zu dem auch die Schweiz gehört – egal, wer gerade US-Präsident ist –, dort das autokratische, das seine Bürger total überwacht. Wer von beiden den Kampf gewinnt, ist völlig offen.

Soll uns das bevorstehende Jahrzehnt also Sorgen machen? Riskante Entwicklungen müssen wir selbstverständlich im Auge behalten. Doch aus Angst oder Panik in Untätigkeit zu verfallen, wäre aus zwei Gründen verkehrt: Erstens sollten wir die Gegenwart geniessen. Und sie zweitens dazu nutzen, jetzt das Richtige zu tun.

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