Alain Berset hat während der 73. Generalversammlung der Uno in New York ein wenig Zeit und nutzt sie, um frische Luft zu schnappen. Er setzt sich auf den Randstein und geht seine Notizen durch. Ein Agenturfotograf hält die Szene fest.
Hunderttausende, wenn nicht Millionen in aller Welt verblüfft dieses Foto. Denn wie es bald auf Facebook, Twitter, Instagram heisst: Alain Berset ist nicht irgendwer, sondern Schweizer Bundespräsident. Dass ein Staatenlenker so unkompliziert sein kann, sorgt vor allem in Afrika für ein Riesenecho. Was für ein Kontrast zu den eigenen Despoten, die sich bestenfalls schwer bewacht und in Kolonnen gepanzerter Luxuslimousinen auf die Strasse wagen! Eine Frau aus Kenia schwärmt von Berset: «Das Bild eines Mannes, der seiner Aufgabe verpflichtet ist und nicht seinem Status!»
In der Schweiz nimmt man den Vorgang – wenn überhaupt – achselzuckend zur Kenntnis. Volksnahe Minister und Präsidenten sind wir uns gewohnt. Wir treffen sie im Kino oder im Zug, vor dem Bundeshaus oder auf dem Märt.
Die Welt aber reagiert immer wieder mit masslosem Erstaunen: Wenn der einstige OSZE-Vorsitzende Didier Burkhalter auf dem Perron in Neuenburg mutterseelenallein auf den Zug wartet. Oder (ausgerechnet!) Verkehrsministerin Doris Leuthard keinen Sitzplatz findet und sich auf die Treppe eines SBB-Waggons setzt.
Warum ist die Schweiz auch hier ein Sonderfall?
Erstens funktioniert unser kleines Land nach dem Milizsystem. Der Bürger ist auch Politiker, der Politiker auch Bürger.
Zweitens beweisen wir der Welt, dass eine effiziente Terrorabwehr nicht nur aus schusssicheren Autos, messerscharfem Stacheldraht und gut trainierten Geheimdienstlern besteht, sondern vor allem aus einem offenen politischen System.
Drittens sind wir eine direkte Demokratie. Politiker können es sich nicht leisten abzuheben: Dann würden sie an der Urne unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Sie müssen sich dem Volk pausenlos erklären, ständig um seine Unterstützung werben.
Viertens ist bei uns kein Einzelner wirklich wichtig. In keinem Land der Welt ist die Macht derart breit verteilt wie in der Schweiz. Darum muss auch kein Brimborium um irgendjemanden veranstaltet werden.
Doch die Volksverbundenheit unserer Spitzenpolitiker ist nicht gottgegeben. In Schweden war die Situation bis vor 15 Jahren ähnlich. Dann wurde Aussenministerin Anna Lindh in einem Kaufhaus erstochen. Seither haben alle Minister einen Leibwächter.
Und: Registrierte die Bundespolizei 2002 in der Schweiz noch 105 Drohungen gegen Politiker, Richter oder öffentliche Personen, waren es fünf Jahre später bereits 1700! Das ist nicht einfach eine ungute Entwicklung, das ist der Weg in die Katastrophe. Wir sollten daher, bei allen politischen Differenzen, dieser wichtigsten Qualität unseres Landes Sorge tragen: dass sich hier weiterhin jeder und jede immer und überall frei und sicher bewegen kann!