Unsere Nationalhymne hat etwas Ergreifendes. Sie lässt kaum jemanden kalt. Besonders, wenn sie in Gemeinschaft gesungen wird: Am 1. August, vor dem Fussballmatch, zu Beginn des Militärdienstes. Es ist auch ein sehr spezieller Moment, wenn der Schweizerpsalm um 23.59 Uhr auf Radio SRF 1 den Tag beendet. Kennen Sie jemanden, dem dieses schöne, alte Lied egal ist?
Wohl kaum. Deshalb ist es auch besonders perfide, wenn jemand die Hymne für irgendwelche Zwecke missbraucht. Denn die Nationalhymne gehört allen.
Am Mittwoch um 7.58 Uhr, zwei Minuten vor Beginn der Session, tat die SVP genau das. Sie entfaltete Transparente mit der Aufschrift «Danke, Schweiz» und sang kollektiv die Nationalhymne – um auf diese Weise des EWR-Neins vor 25 Jahren zu gedenken.
Als es Kritik hagelte, fragten die SVP-Chefs mit Unschuldsmiene: Darf man denn nicht mal mehr die Nationalhymne singen?
Klar darf man das – aber nicht jederzeit und nicht überall. Der Nationalratssaal ist die Stätte, an der die Volksvertreter zusammenkommen und um Lösungen für die wichtigsten Fragen der Schweiz ringen. Er ist die Herzkammer unserer Demokratie, wichtiger noch als das Rütli. Hier entstehen die Gesetze unseres Landes. Und es gelten klare Regeln, wie man sich benimmt, wer wann wie lange und über welches Thema reden darf.
Deshalb sind Aktionen wie die vom Mittwochmorgen verboten. Was auch der Grund dafür ist, dass die SVP niemanden um Erlaubnis fragte, sondern einfach zur Tat schritt. Aber wo würde das hinführen, wenn jede Partei so handeln wollte?
• Die Grünen könnten an jedem 20. Februar die Annahme der Alpenschutz-Initiative begehen: An diesem Tag im Jahr 1994 wurde sie vom Volk abgesegnet – ein ur-grünes Anliegen.
• Die SP könnte alljährlich die Einführung der Mutterschaftsversicherung feiern – ein ur-soziales Thema.
• Die CVP könnte das Volks-Ja zur Energiestrategie 2050 auf Jahrzehnte hinaus zum Anlass nehmen – ein Erfolg ihrer Bundesrätin Doris Leuthard.
• Die FDP hätte seit 1848 jeden Grund, einmal im Jahr den modernen Bundesstaat zu feiern – der war ein freisinniges Projekt.
Ja, die Parteien könnten den Nationalratssaal gleich komplett zur Festhütte umfunktionieren: Ein Grund zum Feiern findet sich schliesslich immer!
Schon heute sind viele Schülerinnen und Schüler schockiert, wenn sie die Besuchertribüne des Nationalrats betreten. Sie erleben, dass die Politiker kommen und gehen, wie es ihnen gerade passt. Dass sie kaum einem Redner zuhören und stattdessen mit ihren Sitznachbarn palavern ... Die Parlamentarier tun all das, was in der Schule als verboten und im normalen Leben als unanständig gilt.
Welcher Anblick muss sich den Besuchern erst am Mittwochmorgen geboten haben? SVP-Präsident Albert Rösti steht auf dem Rednerpult und dirigiert mit theatralischen Armbewegungen den Chor der Fraktion; ein Nationalrat bläst scheppernd auf seiner Trompete, die übrigen singen wie im Bierzelt. SP-Nationalräte verlieren die Contenance, bestürmen wutentbrannt den Ratspräsidenten. Der Genfer Manuel Tornare greift zum billigsten politischen Hilfsmittel, der Nazi-Keule, und schimpft: «Alles Faschisten!»
Was für ein Zirkus!
Und das nach einer Woche, in der die Eskapaden des CVP-Nationalrats Yannick Buttet in Bern mehr zu reden gaben als alle Polit-Themen zusammen. Wundert sich noch jemand, dass mehr und mehr Menschen von Politik und Politikern die Nase voll haben?