Am 15. Juni, dem Tag nach der Rücktrittserklärung von Didier Burkhalter, lancierte BLICK die Diskussion über seinen Nachfolger mit der Schlagzeile: «Und jetzt ein Tessiner!» Es sei höchste Zeit, dass dieser kleine, aber feine Teil unseres Landes wieder im Bundesrat vertreten sei.
Dann nominierte die Tessiner FDP Ignazio Cassis (56). Und zwar ihn allein – obwohl es mehrere fähige Interessenten gab. BLICK gab zu bedenken, mit zwei oder drei Kandidaten stünden die Chancen erheblich besser, dass am Ende tatsächlich ein Tessiner das Rennen macht. Die Einerkandidatur hingegen motiviere Kandidaten aus der Westschweiz dazu, dem Tessin Konkurrenz zu machen.
Prompt brachte sich Isabelle Moret (46) ins Spiel. Auch wenn es kaum jemand offen ausspricht – es könnte ja als sexistisch ausgelegt werden: Die Waadtländer Nationalrätin hat zwar ein gewinnendes Wesen, aber der Job in der Landesregierung ist mindestens eine Nummer zu gross für sie.
Dann tauchte Pierre Maudet (39) auf – und verblüffte das ganze Land: Völlig untypisch für einen Schweizer Politiker versprühte der Genfer Regierungsrat Lust auf das hohe Amt. Und ebenso untypisch: Maudet spricht über seine Ideen, über Zuwanderung, Sicherheit, Europa, die Digitalisierung. Er reist durchs Land, bringt sich ins Gespräch, macht sich bekannt. Maudet erweist sich als König der Inhalte. Und immer mehr Stimmbürger kommen zum Schluss: Er wäre der Beste!
Sie, liebe Leser, konnten ihm und den anderen Kandidaten bei den BLICK-Live-Talks den Puls fühlen – genauso wie die 246 Parlamentarier in den offiziellen Anhörungen.
In der Bundesversammlung stehen die Politiker vor der schwierigen Frage: Sollen sie ihre Stimme Ignazio Cassis geben und damit auf den kompetenten, erfahrenen Bundesparlamentarier setzen? Oder wählen sie Pierre Maudet, den frischen, unverbrauchten, manchmal ein wenig frechen Regierungsrat? Den erfahrenen Tessiner mit der Eignung zum Landesvater – oder den jungen, wilden Genfer mit dem Potenzial, zum Macron der Schweiz zu werden?
In einer Volkswahl wäre das Rennen völlig offen. In der Vereinigten Bundesversammlung aber hat Cassis die weitaus besseren Chancen: weil er berechenbarer ist. Weil die Parlamentarier ihn kennen. Weil Politiker es nicht mögen, wenn ein anderer Politiker als Shootingstar erscheint.
Das spricht zwar alles nicht gegen Cassis: Er wäre gewiss ein guter Bundesrat. Und Pierre Maudet ist in 17 Jahren so alt wie Cassis heute. Er hätte dann immer noch gute, wenn nicht bessere Chancen auf einen Sitz im Bundesrat.
Nein, nichts gegen Cassis! Aber schade ist es trotzdem, dass die Schweiz so wenig bereit ist, über das bestehende politische Schema hinauszudenken – auch nicht in Zeiten, in denen ein 39-jähriger Newcomer französischer Präsident werden kann und in Österreich ein 31-Jähriger wohl demnächst Bundeskanzler.
Es sei denn, am Mittwoch geschieht eine grosse Überraschung ...