Der Mord am saudi-arabischen Regimekritiker und Journalisten Jamal Khashoggi ist mindestens in zweierlei Hinsicht erstaunlich.
Zunächst die gruseligen Details: Ein 15-köpfiges Killerkommando lauert dem knapp 60-Jährigen im saudischen Generalkonsulat in Istanbul auf. Die Männer wissen genau, um welche Uhrzeit er Papiere für seine Hochzeit abholen will. Aus Kreisen der türkischen Ermittler sickert durch, man habe Kashoggi überwältigt, gefesselt und bei lebendigem Leib zersägt.
Fast noch erstaunlicher wirkt die Heuchelei der nicht-arabischen Welt: Wie sich plötzlich alle schockiert zeigen! Wie sie ultimativ Aufklärung fordern und mit Sanktionen drohen! Wie Unternehmer und Politiker geplante Reisen nach Saudi-Arabien im Chor absagen! Weil Empörung nichts kostet, aber weitherum Anklang findet, werfen Meinungsführer dieser Tage mit Empörung nur so um sich.
Sind Wirtschaftsführer und Spitzenpolitiker, ja sogar Fussballklubs nicht jahrelang nach Saudi-Arabien gepilgert, um ihren Anteil an den Öl-Milliarden zu kassieren? Hat jemand von denen im Ernst gemeint, dieses Regime würde Kritiker nicht verfolgen, nicht foltern, nicht umbringen?
Wer ehrlich ist, kennt die Antwort: Es war einfach zu lukrativ, die Propaganda von Kronprinz Mohammed bin Salman (33) nachzuplappern, statt genauer hinzuschauen: Er sei ein Fortschrittlicher, ein Reformer, ein Modernisierer – kurz: einer von den Guten. So konnte man ohne lästige Konfrontation, fast ohne schlechtes Gewissen, seinen Geschäften nachgehen. Noch im Frühling hofierten Apple-Chef Tim Cook und die beiden Google-Gründer den Kronprinzen im Silicon Valley.
Dabei war die Familie Saud seit ihrer Machtübernahme 1932 als Mörderbande bekannt. Allein auf das Konto von Staatsgründer Ibn Saud sollen 40'000 Enthauptungen gehen. Bis heute wird in Riad und Dschidda fleissig gefoltert, gesteinigt, geköpft. In Saudi-Arabien gilt die finsterste Art des Islam und der Scharia, der Wahhabismus. Frauen haben keine Rechte – dass sie seit kurzem Autofahren dürfen, soll nur davon ablenken, dass sie immer noch ausgepeitscht werden, wenn sie den Fehler machen, ihre Vergewaltigung bei der Polizei zu melden.
Dass Mohammed bin Salman den libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri entführen liess, dass er Hunderte Mitglieder der saudischen Elite in ein Hotel sperrte, bis sie ihm Treue gelobten, dass er seit Jahren den Jemen bombardieren lässt – über all das schauen seine westlichen Freunde grosszügig hinweg. Laut Uno stehen im Jemen 14 Millionen Menschen vor dem Hungertod – es droht die weltweit grösste humanitäre Katastrophe.
Und jetzt wollen alle überrascht sein, dass der Kronprinz die bestialische Ermordung eines Kritikers angeordnet hat?
Immerhin besteht Hoffnung, dass Khashoggi nicht in der Vergessenheit versinkt wie Zig-tausende Regime-Opfer vor ihm. Denn oft bewegt der Einzelfall mehr als die Masse.
Millionen Tunesier zum Beispiel litten über Jahrzehnte unter Diktator Ben Ali. Aber erst, als sich der Gemüsehändler Mohamed Bouaziz (26) aus Verzweiflung mit Benzin übergoss und anzündete, begann der Arabische Frühling und fegte das Regime hinweg.
Wegschauen und die Untaten der saudischen Ölprinzen weiterhin schönreden, ist durch den Mord an Jamal Khashoggi unmöglich geworden. Vielleicht ist es sogar ein Trost für seine Angehörigen: Dieser tapfere Journalist hat mit seinem Schicksal mehr erreicht, als er es mit Zeitungsartikeln je vermocht hätte.