BlickPunkt von Christian Dorer
Ehrlich wie nie

In der Stunde ihrer Rücktrittserklärung verblüfften Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann diese Woche mit offenen und zutiefst menschlichen Aussagen. Wenn doch bloss alle Politiker so wären!
Publiziert: 29.09.2018 um 01:50 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2019 um 11:15 Uhr
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Bei der Pressekonferenz zur Erklärung ihres Rücktritts wird Doris Leuthard am Donnerstag emotional wie nie zuvor in ihrer zwölfjährigen Amtszeit. Als sie sich bei den Schweizerinnen und Schweizern bedanken will, kommen ihr die Tränen. Ihre Stimme stockt, dann sagt sie: «Ich habe diese Arbeit sehr gerne gemacht und hoffe, Sie sind zufrieden mit meiner Arbeit.»

Die Bundesrätin fasst sich wieder, spricht mit betont fester Stimme weiter. Darüber, dass sie sich auf Neues in ihrem Leben freue, vor allem auf mehr Zeit mit der Familie ... Da wird sie erneut von Gefühlen überschwemmt: «Mein Mann, meine Mutter, meine Brüder sind in den letzten Jahren zu kurz gekommen.» Leuthards Lippen beben, beinahe schluchzt sie jetzt.

Dennoch ist ihre Rücktrittsrede in der Substanz hochpolitisch. Und: mutig. Leuthard spielt auf die neuen Kräfteverhältnisse im Bundesrat an, wo die zwei SVP- und die zwei FDP-Bundesräte zu einer fest zementierten 4:3-Mehrheit zusammenspannen. Angriffig schliesst sie: «Es ist wichtig, dass wirklich unabhängige Leute im Bundesrat sitzen. Wenn zu viel Parteipolitik ins Gremium kommt, ist das nicht gut.»

Ebenfalls am Donnerstag hatte Johann Schneider-Ammann den ersten öffentlichen Auftritt seit seiner Rücktrittsankündigung. Kaum je hat man ein Mitglied der Landesregierung derart ehrlich über die Schattenseiten des Amtes und über eigene Schwächen reden hören. Der Wirtschaftsminister erzählte, wie seine Frau beim Einkaufen schräge Blicke erntet, sobald er öffentlich kritisiert werde. Er gestand ein, dass er nach gut einem Jahr im Amt daran zweifelte, ob er für die Ränkespiele der Politik geschaffen sei, dass er bereits den Bettel hinschmeissen wollte. Seine Frau habe ihn in letzter Minute vom Rücktritt abgehalten.

Mit einem ordentlichen Schuss Selbstironie berichtete Schneider-Ammann von seinem missratenen Grusswort an die «Chers Malades» zum Tag der Kranken. Der Clip dieser Rede ging um die Welt, worauf ihn selbst US-Präsident Barack Obama fröhlich mit den Worten begrüsst habe: «I know you!» Völlig locker gestand er ein, dass er an Sitzungen ab und zu einnicke – das sei ja auch kein Wunder, «wenn man immer denselben Mist hört». Wer von uns könnte derart herzhaft über sich selber lachen?

Er sei nie der Liebling der Medien gewesen, sagte Schneider-Ammann, aber er stets ein Liebhaber der Medien geblieben. Wer von uns könnte derart entspannt über den Dingen stehen?

Schneider-Ammann und Leuthard erinnerten uns daran, dass auch Bundesräte keine Maschinen sind, sondern Menschen wie du und ich, mit Stärken und Schwächen, mit Hochs und Tiefs, mit Empfindsamkeiten und Eitelkeiten.

Doch wir sehen und erleben all das leider viel zu selten, weil meistens irgendwelche Berater mit wohlformulierten Sätzen zur Stelle sind, sämtliche Schattierungen rosarot ausleuchten, ihre Chefs ohne Fehl und Tadel präsentieren. Denn fast alle Politiker haben Angst, Schwäche zu zeigen.

Dabei kann es – wie wir diese Woche gesehen haben – sackstark sein!

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