So kann man einer Debatte auch ausweichen: Die «Süddeutsche Zeitung» bezeichnet das neue Buch des Ex-SPD-Politikers Thilo Sarrazin (73) als «verlegerisches Unglück des Jahres». Das Urteil des Blatts: «Deutschland braucht dieses Werk so dringend wie einen Ebola-Ausbruch.»
Fast alle anderen Medien der Bundesrepublik tönen ähnlich. Sie erklärten Sarrazins «Feindliche Übernahme» schon Wochen vor Erscheinen zum Skandal – ohne es im Detail zu kennen. Jetzt verreissen sie das Buch im Chor – zumeist ebenfalls ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Inhalt.
Was hat Sarrazin verbrochen?
Der frühere Berliner Finanzsenator, Ex-Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, sieht unsere Werte, unsere Kultur und unsere Freiheit von der islamischen Migration bedroht.
Anhand von Zuwanderungs- und Geburtenraten rechnet er aus, dass der Islam in zwei bis drei Generationen zur Mehrheitsreligion werde.
Sobald Muslime unsere Kultur dominierten, machten sie sich daran, das System der freiheitlichen Demokratie abzuschaffen und Nichtgläubige zu unterdrücken.
Das einzige Mittel, eine solche Entwicklung zu verhindern, sei das Einwanderungsverbot für Muslime.
Worauf die deutschen Meinungsmacher mit Entsetzen reagieren, trifft bei vielen Bürgern einen Nerv. Sie erleben im Alltag, dass Zuwanderer vielfach unsere Sprache nicht lernen und sich auch sonst gegen jede Integration sperren, dass sie sich ungern mit westlichen Werten beschäftigen, dass sie Frauen als minderwertig behandeln.
Zugegeben: Sarrazin schiesst mit vielen seiner Thesen übers Ziel hinaus. Die Verfassungen westlicher Länder lassen es gar nicht zu, dass die Religionszugehörigkeit darüber entscheidet, ob jemand einwandern darf oder nicht.
Sarrazin verallgemeinert allzu gern. Migranten sind zwar häufiger gewalttätig als Deutsche, sympathisieren eher mit Terrorismus und schlagen häufiger ihre Frauen. Gleichzeitig aber sind die allermeisten weder frauenfeindlich noch kriminell oder gar terroristisch.
Rein rechnerisch stimmt: Wenn die demografische Entwicklung weitergeht wie bisher, werden Muslime eines Tages in der Mehrheit sein. Gleichzeitig blendet der Bestseller-Autor aber aus, dass sich die Geschichte noch nie linear entwickelt hat, sondern in schwer berechenbaren, oft völlig überraschenden Sprüngen.
Man kann Thilo Sarrazin mit den Schwächen seiner Argumentation konfrontieren, wie BLICK das im Interview am Donnerstag getan hat. Man kann seine Aussagen einem Fakten-Check unterziehen, wie BLICK das am Freitag getan hat.
Aber man sollte keinesfalls in intellektueller Überheblichkeit eine Debatte abwürgen, bloss weil sie nicht ins eigene Weltbild passt.
So etwas kann sich rächen. Und im Extremfall dazu führen, dass ein Funke genügt, um Ausschreitungen wie jene von Chemnitz zu provozieren, wo seit Tagen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, wo ein entfesselter Mob Ausländer durch die Strassen hetzt.
Die Bilder aus Chemnitz erinnern an Szenen einer untergehenden Diktatur. Denn auch dort werden Meinungen unterdrückt. Und plötzlich brechen die verdrängten Widersprüche auf. Auch die Stillen gehen auf die Strasse. Wo vorher Schweigen herrschte, herrscht schliesslich Revolution.
In Deutschland ist es selbstverständlich noch nicht so weit. Doch der erste Schritt ist bereits getan: Die Berliner Demokratie hat in entscheidenden Fragen ihre Debattenkultur verloren.
In der Schweiz sind wir zum Glück weiterhin fähig zu heiklen Auseinandersetzungen, sogar dann, wenn es mal hart auf hart geht. Das gehört zu unserem freiheitlichen System.
Wir sollten es bewahren.
Thilo Sarrazin (73) ist einer der umstrittensten Autoren und wichtigsten Intellektuellen Deutschlands. Seine Thesen zur Migrations- und Finanzpolitik sorgen für hitzige Debatten. Sarrazin arbeitete unter anderem als Staatssekretär im Finanzministerium, bei der Deutschen Bahn und als Senator für Finanzen in Berlin. Zuletzt war er im Vorstand der Bundesbank. Wegen seines provokativen Buches «Deutschland schafft sich ab», das 2010 zum Bestseller wurde, verlor er seinen Job. Sarrazin ist nach wie vor Mitglied der SPD, verheiratet und Vater zweier Söhne. Heute erscheint sein neustes Buch: «Feindliche Übernahme».
Thilo Sarrazin (73) ist einer der umstrittensten Autoren und wichtigsten Intellektuellen Deutschlands. Seine Thesen zur Migrations- und Finanzpolitik sorgen für hitzige Debatten. Sarrazin arbeitete unter anderem als Staatssekretär im Finanzministerium, bei der Deutschen Bahn und als Senator für Finanzen in Berlin. Zuletzt war er im Vorstand der Bundesbank. Wegen seines provokativen Buches «Deutschland schafft sich ab», das 2010 zum Bestseller wurde, verlor er seinen Job. Sarrazin ist nach wie vor Mitglied der SPD, verheiratet und Vater zweier Söhne. Heute erscheint sein neustes Buch: «Feindliche Übernahme».