Die Schweiz ist das Land der Sonderfälle. Jahrzehntelang war bei uns fast alles anders als anderswo: ein unabhängiger Kleinstaat, volksverbundene Milizpolitiker, ein grundsolides Bankgeheimnis, überall Stabilität und Kontinuität.
Inzwischen übernehmen wir praktisch alle EU-Gesetze und nennen das «autonomen Nachvollzug». Die meisten Politiker machen ausschliesslich Politik und haben ihren Beruf aufgegeben. Das Bankgeheimnis ist pulverisiert, und weil Klima-Themen gerade «in» sind, erleben wir bei Wahlen einen grünen Erdrutschsieg.
Nun verlieren wir plötzlich auch noch eine weitere Schweizer Eigenheit, auf die wir immer so stolz waren: Unsere Bundesbahnen SBB, einst Ausbund von Präzision und Zuverlässigkeit, verkommen zu einer ganz normalen Eisenbahngesellschaft, wie man sie in Deutschland, Italien oder Frankreich finden kann: unpünktlich, ungepflegt, unzuverlässig ...
Für jeden Passagier der SBB ist offensichtlich, dass die offizielle Bahnstatistik – über 90 Prozent Pünktlichkeit – nichts mehr mit der Realität zu tun hat: Ausfälle, massive Verspätungen, Bus-Ersatzverkehr, verkürzte und deshalb überfüllte Züge, sogar ausgelassene Halte: Wer einen wichtigen Termin hat, nimmt sicherheitshalber einen Zug früher!
Leidtragende sind auch die Bähnler. Sie leisten Überstunden, geben jeden Tag alles, um das Beste aus der Misere zu machen – und müssen dennoch oft als Blitzableiter für verärgerte Passagiere herhalten. Wenn die Frauen und Männer an der Basis ihrer Frustration jetzt mit dem Lied «Hört endlich auf. Stop bashing SBB» Luft machen, dann ist das Ausdruck von Berufsstolz.
Fantasiert jedoch ein Mitglied der SBB-Konzernleitung auf Twitter: «Wenn ich einen Wunsch frei hätte: Stop Bashing SBB», dann ist das etwa so absurd, wie wenn die BLICK-Chefredaktion täglich verkehrte Schlagzeilen produzieren würde und dann jammert, statt den Missstand zu beheben.
Immerhin hat CEO Andreas Meyer vergangene Woche erstmals Fehler eingeräumt. Wegen des Lokführermangels und des verspäteten Bombardier-Zugs kündigte er eine Durststrecke bis 2021 an.
Vielleicht kommt die Besserung nie – weil die Schweiz auch im Hinblick auf ihre Bahnen ein ganz normales Land geworden ist.
Balsam auf die Schweizer Seele war diese Woche der Essay in der «New York Times» – ein einziges grosses Loblied auf unser Land, das der Autor zum Vorbild für die ganze Welt ausruft. Seine drei Haupterkenntnisse:
- Die Schweiz ist nicht nur reich, sondern auch glücklich.
- Die Schweizer Wirtschaft ist höchst erfolgreich, weil 13 der 100 grössten europäischen Unternehmen ihren Sitz hier haben, weil die eidgenössischen KMU stark sind, weil ihre Top-Produkte trotz unserer starken Währung weltweit gefragt sind.
- Die Schweiz hält die richtige Balance zwischen Privatwirtschaft und Wohlfahrtsstaat.
Die SBB kommen in diesem Loblied allerdings nicht vor.