Eine grosse Katastrophe ist gerade über die Schweiz hereingebrochen – so könnte man meinen:
«Hitze ist lebensgefährlich», titelt die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ). «Ein Land leidet unter der Hitze», titelt der «Tages-Anzeiger», und der Kulturteil erhebt die bange Frage: «Ist dieser Kinosommer noch zu retten?» Die Gratiszeitung «20 Minuten» warnt: «Die Wasserqualität in Schwimmbecken leidet!» Wegen Smog-Alarm gibt es Tempolimits im Tessin, wegen verbogener Gleise ein Bahn-Chaos in Bern, der Flughafen Zürich liess angeblich Passagiere bei 47 Grad in der Einstiegsbrücke vor dem klimatisierten Flieger warten.
Was ist geschehen? Luftmassen aus der Sahara weht es derzeit nicht wie üblich über Spanien und Portugal, sondern direkt nach Norden, also auch über die Schweiz. Deshalb melden sogar offizielle Meteorologen 33, 34, 36 Grad!
Bereits im Mai hätte man meinen können, in der Schweiz sei die Apokalypse angebrochen: «Die Bauern müssen wegen den Minustemperaturen zittern», schrieb der «Tages-Anzeiger». «Zu allem Übel droht in den nächsten Tagen Frost», warnte die Agentur SDA. «Dieser Monat hat punkto Wärme versagt», meldete die «Aargauer Zeitung». Auf dem Säntis herrschte wegen der Schneemassen Ausnahmezustand, der Saisonstart in den Badis fiel ins (Regen-)Wasser.
Was war geschehen? Kaltluft vom Nordpol strömte direkt in die Schweiz, es goss wie aus Kübeln, eine eiskalte Bise wehte, teilweise fiel Schnee. Der Mai 2019 war einer der kältesten seit Messbeginn.
Der Mensch kann sich das Wetter nicht aussuchen. Trotzdem diskutieren wir lieber und häufiger darüber als über alles andere. Das Wetter kommt in beinahe jedem Smalltalk vor, auf Newsportalen ist es meistgeklickt – das einzige Thema, zu dem wirklich jeder eine Meinung hat.
Das Wetter kann machen, was es will: Wir sind nie zufrieden. Es ist immer zu heiss oder zu kalt, zu nass oder zu trocken, es hat zu viel Schnee oder zu wenig. Wenn die Sonne zu lange scheint, flehen alle um Regen. Wenn es zu lange regnet, schreien alle nach Sonne.
Und weil die Wetterextreme zunehmen, nimmt auch das Jammern über das Wetter zu.
Doch um wie viel glücklicher wären wir, wenn wir die Temperaturen einfach so geniessen würden, wie sie sind: mit einem Sprung in den kühlen See während einer Sahara-Woche, mit einem guten Buch hinter dem warmen Ofen während einer Sibirien-Woche. Und wie sehr würden wir erst jammern, wenn es keine Jahreszeiten gäbe!
Das wahre Problem ist sowieso nicht ein kurzfristiges Temperaturextrem, sondern die schleichende Veränderung des Klimas insgesamt. Die letzten 15 Jahre waren – so hat der Berner Klimaforscher Thomas Stocker 2018 errechnet – die wärmsten in 160 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dies ein Zufall ist, sei millionenfach geringer als ein Sechser im Lotto.
Das sollte uns mehr zu denken geben als ein paar Hitze- oder Kältetage.