Seit seinem Amtsantritt Ende 2017 fällt Ignazio Cassis (58) damit auf, dass er politische Aufgaben anders anpackt, als ein Bundesrat dies normalerweise tut. Manchmal gelingt es ihm damit, verfahrene Situationen aufzubrechen, manchmal kassiert er Häme.
Das Verhältnis zu Europa bleibt ausgespart; er ist sicher, dass es im kommenden Jahrzehnt geklärt sein wird. Das ist klug, weil die Schweiz wegen der Wirren um den Rahmenvertrag gegenwärtig drauf und dran ist, den Rest der Welt zu vergessen.
Im Vordergrund des Berichts steht etwas anderes: Die Schweiz soll künftig ihre eigenen Interessen besser vertreten. Das tönt selbstverständlich, ist aber ein grösserer Bruch, als es auf den ersten Blick scheinen mag:
Die Wirtschaft ins Zentrum! Was unser Land kann, soll im Vordergrund der Schweizer Aussenpolitik stehen – nicht mehr der Leitgedanke des Humanitären in aller Welt. Schliesslich geht es uns deshalb so gut, weil unsere Wirtschaft jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 452 Milliarden Franken ans Ausland verkauft! Diese starke Position ist nicht gottgegeben. Also muss die offizielle Schweiz alles dafür tun, unseren Unternehmen den unkomplizierten Zugang zu möglichst vielen Märkten zu öffnen und zu bewahren.
Switzerland first! Wenn die Schweiz im Ausland Geld ausgibt, soll ihr das auch etwas bringen – selbst in der Entwicklungshilfe. Es bedeutet zum Beispiel keinen Bruch mit der humanitären Tradition, Hilfsmassnahmen an die Verpflichtung zu koppeln, dass Flüchtlinge zurückgenommen werden.
Mehr Selbstbewusstsein! Cassis verzichtet in seinem Bericht auch auf den ewigen, leicht unterwürfigen Duktus vom «kleinen Land». Natürlich wäre es ebenso falsch, in Grössenwahn zu verfallen. Doch etwas mehr Selbstbewusstsein tut der Schweiz gut, schliesslich steht sie auf Rang 20 der bedeutendsten Volkswirtschaften der Welt. Auch politisch spielt die Schweiz eine nicht zu unterschätzende Rolle. Letzte Woche widmete BLICK dem internationalen Genf eine Artikelserie: Dort haben sich mehr als 40 internationale Organisationen angesiedelt, 177 diplomatische Vertretungen, 380 Nichtregierungsorganisationen, 26'000 Diplomaten. Die Schweiz sollte ihre Rolle als Gastgeberin aktiv gestalten – etwa so wie ein guter Hotelier seine Stammgäste pflegt – und möglichst auch neue Institutionen ins Land bringen, die auf dem Gebiet der Digitalisierung aktiv sind.
Um diese drei Kernpunkte könnten noch grössere Kontroversen entstehen, auf der politischen Bühne und innerhalb des Departements des Äusseren selbst. Es ist das trägste von allen sieben, denn es wird von starken, zugleich wenig veränderungsfreudigen Diplomaten dominiert. Sie verbringen häufig ihre ganze Karriere dort, und es ist ihnen egal, wer gerade Bundesrat ist. Sie lieben eine graue Maus wie Didier Burkhalter und hassen einen Chef wie Ignazio Cassis, der unbequeme Fragen stellt.
Das EDA ist ein Departement zwischen Lackschuh und Birkenstock, zwischen Wirtschaftsinteressen und Entwicklungshilfe. Nun scheint sich die Macht zu den Lackschuhen zu verschieben, auch wenn das Humanitäre – zu Recht! – weiterhin den Wesenskern der Schweiz definieren wird.
Ebenso wie die Neutralität, obwohl sie mehr Mythos ist denn Programm. Selbstverständlich teilt die Schweiz die westlichen Werte. Selbst im Kalten Krieg war sie offiziell neutral, gehörte aber immer klar zum Westblock. Dennoch glaubt man der Schweiz, dass sie das Beste für alle will – nicht zuletzt aus Eigeninteresse: Der Exportnation Schweiz geht es gut, wenn es der ganzen Welt gut geht.
Eigeninteressen zu vertreten, ohne anderen zu schaden, ist legitim. So halten es schliesslich alle. Höchste Zeit, dass es auch die Schweiz tut. Mehr denn je.