BlickPunkt über die «grüne Flut» und ihre Folgen
Es eilt nicht mit dem grünen Bundesrat

Die Umweltparteien haben am Sonntag einen historischen Wahlsieg eingefahren. Trotzdem wäre es falsch, am 11. Dezember einen Bundesrat abzuwählen, um einem Grünen Platz zu machen.
Publiziert: 25.10.2019 um 23:36 Uhr
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Aktualisiert: 26.10.2019 um 05:37 Uhr
Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe.
Foto: Shane Wilkinson
Christian Dorer, Chefredaktor Blick-Gruppe

Parteipräsidentin Regula Rytz (57) zeigte sich am Sonntag selbst überrumpelt – die Grünen haben neu 28 statt 11 Nationalräte, ihr Wähleranteil stieg auf 13,2 Prozent (+6,1): Das war nicht die erwartete «grüne Welle», das ist eine grüne Flut!

Dieser historische Erfolg macht Lust auf mehr – unter anderem auf Einzug in den Bundesrat! Die Grünen-Präsidentin erklärte im BLICK: «Noch nie wurde eine Partei so gestärkt wie die Grünen an diesem Sonntag. Das muss sich auch in der Regierung abbilden.» Und: «Es braucht jetzt eine neue Zauberformel.»

Am 11. Dezember stellen sich alle sieben Bundesräte zur Wiederwahl, diese wäre normalerweise ein Routinevorgang. Doch derzeit ist nichts mehr normal in Bundesbern: In den kommenden sechseinhalb Wochen könnte eine völlig neue Dynamik entstehen.

Die entscheidende Rolle spielt ausgerechnet eine Schrumpfpartei: die CVP. Seit Jahrzehnten verliert sie Wähler, am Sonntag wurde sie von den Grünen überholt. Und doch ist die Christliche Volkspartei so mächtig wie lange nicht mehr, denn im neuen Parlament fungiert sie als Zünglein an der Waage: gemeinsam mit Grün, Grünliberal und SP könnte sie einen FDP-Bundesrat abwählen und einen grünen Bundesrat auf den Thron setzen, zusammen mit SVP und FDP könnte sie genau dies verhindern.

Für die CVP ist das eine grosse Verlockung: Mit einem grünen Bundesrat oder einer grünen Bundesrätin fiele ihr diese Rolle auch in der Regierung zu. Links von der CVP gäbe es dann zwei SP-Bundesräte und einen Grünen, rechts zwei SVP-Bundesräte und einen Freisinnigen.

Dass die Umweltparteien jetzt nach einem grünen Bundesrat streben, kann man ihnen nicht verargen. Ihn oder sie jetzt sofort zu wählen, wäre trotzdem falsch.

Erstens entspricht eine Abwahl nicht dem politischen System der Schweiz. Die Bundesräte sollen für unser Land arbeiten – und nicht für ihre Wiederwahl. Seit 1848 gab es 119 Bundesräte. Nur vier wurden abgewählt. Alle unter besonderen Umständen.

Zweitens verlangen gerade hektische Zeiten wie diese nach Stabilität. Es hat der Schweiz immer gedient. Es ist kein Zufall, dass hierzulande nicht nach jeder Wahl eine neue Regierung an die Macht kommt, die als Erstes sämtliche Massnahmen ihrer Vorgänger rückgängig macht.

Die Zusammensetzung des Bundesrats entspricht unserer austarierten Verfassung. Auch die SVP musste über mehrere Wahlen beweisen, dass sie dauerhaft stark ist, bis sie ihren zweiten Sitz erhielt. Diesen Beweis müssen jetzt auch die Grünen erbringen: 2023 wird sich zeigen, ob die grüne Wende nur ein Hype ist – oder eine echte Zäsur.

Konsolidieren die Grün-Parteien ihre neue Macht, braucht es tatsächlich einen neuen Schlüssel für die Zusammensetzung des Bundesrats – einen wegweisenden Wurf wie die Zauberformel von 1959, einen Bundesrat, der wieder stärker alle relevanten Kräfte einbezieht. 

Viele Varianten sind denkbar. Das kann nach Wähleranteil gehen, nach Anzahl der Parlamentssitze oder nach Gewichtung der politischen Lager. Bloss eines darf dabei nicht geschehen: dass vor lauter Arithmetik und Rechnerei vergessen wird, in allererster Linie die besten Politiker des Landes an die Spitze zu wählen.

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