BlickPunkt über die bisher grösste Krise der EU
Abwarten und Tee trinken

Statt den Grossmächten China und USA geschlossen entgegenzutreten, zerlegt sich Europa gerade selbst. Die Schweiz kann den Streit über den Brexit in aller Ruhe abwarten. Aber auf die Zeit danach sollten wir vorbereitet sein ...
Publiziert: 19.01.2019 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 19.01.2019 um 00:04 Uhr
Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe.
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Christian Dorer

Es wird ernst mit dem Brexit. Allmählich begreifen das auch die Menschen in Grossbritannien. Die Regierung in London arbeitet an Notfallszenarien für den Fall, dass Reisende auf den Kontinent oder Waren aus der EU die Grenzen nicht mehr frei passieren dürfen. Sie rechnet mit kilometerlangen Staus und Chaos an den Häfen, mit Hamsterkäufen und leeren Regalen.

Die Situation ist verfahren, drei Szenarien sind denkbar. Entweder das Austrittsdatum wird verschoben, was Zeit liesse für neue Verhandlungen. Oder der Abschied von der EU erfolgt wie geplant am 29. März, aber im Chaos des vertragslosen Zustands. Drittens: Es gibt eine neue Volksabstimmung, gemäss Umfragen mit grossen Chancen, den Austrittsbeschluss zu kippen.

Die Fronten im ehemals Vereinigten Königreich stehen sich unversöhnlich gegenüber. Es droht die Abspaltung von Schottland und Nordirland, die in der EU bleiben möchten.

Zwar ist die Schweiz kein Teil der EU. Grund zur Schadenfreude haben wir trotzdem nicht. Denn die Eidgenossenschaft gehört zu Europa – auch ohne offizielle Mitgliedschaft.

Wie gut es uns geht, hängt davon ab, wie gut es den bisher 28 EU-Staaten geht. Das wiederum hängt davon ob, wie sich unser Kontinent gegen Asien und Amerika behauptet. Wer schafft den geschmeidigsten Übergang in die digitale Zukunft? Wo entstehen die innovativsten Start-ups? Wer zieht die besten Professoren an, bildet die grössten Talente aus, wird zum neuen Zentrum der künstlichen Intelligenz?

In diesem weltweiten Wettrennen droht Europa von den erfolgshungrigen Asiaten und den zu allem entschlossenen Amerikanern abgehängt zu werden. Je mehr Kraft wir für interne Streitereien verschwenden, desto schlechter steht es um unsere Zukunft.

Wie der Schweizer Streit um das Rahmenabkommen ausgeht, wird ganz direkt vom Vollzug des Brexit bestimmt. Die EU dürfte uns kaum etwas zugestehen, das sie den Briten gerade noch verweigert hat.

Kurzfristig dürfen wir uns da zurücklehnen und Tee trinken. Oder, wie es der Schweizer Wirtschaftshistoriker Thomas Straumann im «Tages-Anzeiger» sagte: «Es ist sehr gut, dass die Schweiz auf Zeit spielt. (...) Mit den bilateralen Verträgen läuft es gut, und diese Abkommen würden auch nicht sofort aufgehoben, sollten wir das Rahmenabkommen ablehnen.» Dennoch sollten wir an einem guten Brexit-Deal interessiert sein.

Der grösste Knackpunkt für die Schweiz ist der Schutz unserer Löhne. Vielleicht hat die EU da ja doch noch ein Einsehen. Im Gespräch mit SonntagsBlick hat ein Regierungsmitglied des wichtigsten EU-Landes eingeräumt, dass auch jedes Mitgliedsland zunächst für sich selber schaut: «Ohne die Freizügigkeit in Europa grundsätzlich in Frage zu stellen», hätte er gern die beinahe 6800 deutschen Ärzte wieder zurück, die in der Eidgenossenschaft tätig sind, offenbarte Deutschlands Gesundheitsminister Jens Spahn.

Das wäre doch schon mal ein Ansatz: Personenfreizügigkeit ja. Mit Ausnahmen für die Schweiz beim Lohnschutz – und für Deutschland bei den Ärzten.

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