Das Tessin ist mehr als nur Mendrisio, Mortadella und Merlot del Ticino. Als die BLICK-Politikredaktion für eine Woche ihren Arbeitsplatz nach Lugano und Ascona verlegte, lernte sie einen vitalen, vielseitigen und erfolgreichen Kanton kennen: Auf 330'000 Einwohner kommen 230'000 Arbeitsplätze, die Pharmaindustrie ist dort und der Maschinenbau, das globale Logistikzentrum der Modekette Gucci und der Europasitz des Computerherstellers Acer. Im Stahlhandel ist das Tessin Weltspitze, der Tourismus boomt, die Arbeitslosigkeit liegt bei historisch tiefen 3,1 Prozent.
Wie verträgt sich das mit den ständigen Klagen über Grenzgänger, Lohndumping und entvölkerte Täler?
Ganz einfach, die Deutschschweiz hat ein falsches Bild vom Tessin. Weil sie sich zu wenig für diesen Kanton interessiert, weil hier kaum jemand seine Sprache spricht. Das macht die Tessiner auch manchmal sauer. Als BLICK den Ex-Gemeindepräsidenten von Sessa auf Deutsch befragen möchte, protestiert er: Seine Sprache sei Italienisch! Viele fühlen sich wie er vom Rest der Schweiz unverstanden, abgehängt, an den Rand gedrängt – und viele sind überzeugt: Ein Tessiner Bundesrat würde dies ändern.
Es ist ein Urbedürfnis der Schweiz, ihre Minderheiten einzubinden – darum ist der Tessiner Bundesrat ein Muss. Der Freisinn hat es in der Hand, ob am 20. September nach 18 Jahren wieder ein solcher gewählt wird. Das gäbe der FDP zugleich die Chance, den Politsommer 2017 zu prägen – ein Traum für jede Partei!
Was aber macht Petra Gössi? Die FDP-Präsidentin lanciert den Abstimmungskampf um die Reform der Altersvorsorge mit einem Angriff auf Senioren, die ihre AHV im Ausland beziehen. Ein durchsichtiges Manöver, das auf die Reform als Ganzes zielt. Denn die sieht eine Erhöhung für Neurentner vor – 70 Franken, die dann eben auch ins Ausland fliessen würden.
Warum aber darf ein Rentner nicht selbst entscheiden, wo er leben will? Wie kann ausgerechnet eine liberale Partei dagegen sein? Gössi hat eine heftige Kontroverse losgetreten – und damit bewirkt, dass ihre Bundesratskandidaten nur noch unter einem Aspekt betrachtet werden: Sind sie für oder gegen die Reform?
Vier Tage vor der zukunftsweisenden Abstimmung findet die Wahl des neuen Bundesrats statt. Die SVP wird keinen Kandidaten unterstützen, der für die Reform ist – die anderen Parteien werden keinen unterstützen, der dagegen ist. Für die FDP bedeutet das eine Zerreissprobe – schlimmer noch: Der Tessiner Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat ist plötzlich in den Hintergrund gerückt.
Manchmal wiederholt sich die Geschichte: 2003 lancierte der damalige FDP-Bundesrat Pascal Couchepin das Rentenalter 67 – und legte damit seiner Partei mitten im Wahlkampf ein Ei. 14 Jahre später stellt Parteipräsidentin Gössi die Renten für Senioren im Ausland infrage.
Und hat damit ihren möglichen Bundesräten ein nicht minder dickes Ei gelegt!